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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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vorausgesandt, ehe die eigentliche Armee aufbrach. Noch bevor die strenge
Kälte eintrat und die Armee von den Verfolgungen der Kosaken heimgesucht
wurde, begann das Schicksal derselben sich bereits zu vollziehen. Trotzdem,
daß man noch immer reiche Vorräthe besaß, ertönten von allen Seiten Klagen
über Hunger und schlechte Verpflegung, -- inmitten des allgemeinen Chaos
war an Ordnung und Regelmäßigkeit nicht zu denken. Wohin der Ver¬
wundeten-Transport auch kommt, überall findet er ein Heer von Marodeuren
und Taugenichtsen vor, welche ihre Regimenter im Stich gelassen haben und
vor diesen herlaufen, die Bewohner ihrer letzten Habe berauben und mi߬
handeln, über die mitgebrachten Vorräthe wie hungrige Wölfe herfallen, alle
Quartiere besetzt halten, und alle Versuche, der nachrückenden Armee eine er¬
trägliche Aufnahme zu verschaffen, im Voraus Paralysiren. Die an strenge
Zucht gewöhnten verwundeten polnischen Officiere. mit denen Brandt gemein¬
sam transportirt wurde, konnten anfangs gar nicht begreifen, was eigentlich
geschehen sei; wohin sie auch kamen, fanden sie eine zahlreiche Armee vor,
die aus Unbewaffneten aller Truppengattungen bestand -- und doch
sollte das Heer ihnen erst folgen. "Es sind ja gesunde starke Kerle", sagte
Brandes Leidensgefährte Gorszynski diesem noch in Borifsow, "ich verstehe die
Geschichte nicht, das können nur Leute sein, die zu irgend einem Zweck abge¬
schickt sind, die Lager sind gewiß hier in der Nähe." Als die beiden Cameraden
den eigentlichen Zusammenhang der Dinge errathen, bleibt ihnen der einzige
Trost, daß wenigstens keine Leute ihrer wesentlich aus Nichtfranzosen bestehenden
Division dabei sind. -- Natürlich sind all' die verspäteten Versuche, welche
jetzt gemacht werden, um die Disciplin wieder herzustellen, vergeblich -- die
Insubordination hatte einen so hohen Grad erreicht, daß in der nächsten
Umgebung des Kaisers Excesse aller Art vorkamen und die in den Tages¬
befehlen enthaltenen strengen Strafandrohungen verlacht wurden und nicht
die geringste Wirkung übten. "Von einem Mangel an Lebensmitteln habe
ich nur ab und zu etwas bemerkt", heißt es bei Brandt, "und zwar bei den
Verwundeten und namentlich bei den Officieren. Wäre nur etwas Zucht
in der Armee gewesen, so wären die Elementarereignisse, von
denen man so viel geschwatzt, gewiß ohne Einfluß aus sie ge¬
blieben.

"Die Officiere aller Grade und die verständigen Unterofficiere, mit denen
ich gesprochen", heißt es an einer anderen Stelle, "waren einstimmig der
Meinung, daß die Unordnung und lüderliche Zucht in der Armee den eigent¬
lichen Grund zu ihrer Auflösung gelegt. Lange ehe die Kälte oder der eigent¬
liche Mangel an Lebensmitteln begann, gab es tausend Unbewaffnete, die
sich bei den Wagenburgen umhertrieben.......Sie waren einstimmig


vorausgesandt, ehe die eigentliche Armee aufbrach. Noch bevor die strenge
Kälte eintrat und die Armee von den Verfolgungen der Kosaken heimgesucht
wurde, begann das Schicksal derselben sich bereits zu vollziehen. Trotzdem,
daß man noch immer reiche Vorräthe besaß, ertönten von allen Seiten Klagen
über Hunger und schlechte Verpflegung, — inmitten des allgemeinen Chaos
war an Ordnung und Regelmäßigkeit nicht zu denken. Wohin der Ver¬
wundeten-Transport auch kommt, überall findet er ein Heer von Marodeuren
und Taugenichtsen vor, welche ihre Regimenter im Stich gelassen haben und
vor diesen herlaufen, die Bewohner ihrer letzten Habe berauben und mi߬
handeln, über die mitgebrachten Vorräthe wie hungrige Wölfe herfallen, alle
Quartiere besetzt halten, und alle Versuche, der nachrückenden Armee eine er¬
trägliche Aufnahme zu verschaffen, im Voraus Paralysiren. Die an strenge
Zucht gewöhnten verwundeten polnischen Officiere. mit denen Brandt gemein¬
sam transportirt wurde, konnten anfangs gar nicht begreifen, was eigentlich
geschehen sei; wohin sie auch kamen, fanden sie eine zahlreiche Armee vor,
die aus Unbewaffneten aller Truppengattungen bestand — und doch
sollte das Heer ihnen erst folgen. „Es sind ja gesunde starke Kerle", sagte
Brandes Leidensgefährte Gorszynski diesem noch in Borifsow, „ich verstehe die
Geschichte nicht, das können nur Leute sein, die zu irgend einem Zweck abge¬
schickt sind, die Lager sind gewiß hier in der Nähe." Als die beiden Cameraden
den eigentlichen Zusammenhang der Dinge errathen, bleibt ihnen der einzige
Trost, daß wenigstens keine Leute ihrer wesentlich aus Nichtfranzosen bestehenden
Division dabei sind. — Natürlich sind all' die verspäteten Versuche, welche
jetzt gemacht werden, um die Disciplin wieder herzustellen, vergeblich — die
Insubordination hatte einen so hohen Grad erreicht, daß in der nächsten
Umgebung des Kaisers Excesse aller Art vorkamen und die in den Tages¬
befehlen enthaltenen strengen Strafandrohungen verlacht wurden und nicht
die geringste Wirkung übten. „Von einem Mangel an Lebensmitteln habe
ich nur ab und zu etwas bemerkt", heißt es bei Brandt, „und zwar bei den
Verwundeten und namentlich bei den Officieren. Wäre nur etwas Zucht
in der Armee gewesen, so wären die Elementarereignisse, von
denen man so viel geschwatzt, gewiß ohne Einfluß aus sie ge¬
blieben.

„Die Officiere aller Grade und die verständigen Unterofficiere, mit denen
ich gesprochen", heißt es an einer anderen Stelle, „waren einstimmig der
Meinung, daß die Unordnung und lüderliche Zucht in der Armee den eigent¬
lichen Grund zu ihrer Auflösung gelegt. Lange ehe die Kälte oder der eigent¬
liche Mangel an Lebensmitteln begann, gab es tausend Unbewaffnete, die
sich bei den Wagenburgen umhertrieben.......Sie waren einstimmig


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[0248] vorausgesandt, ehe die eigentliche Armee aufbrach. Noch bevor die strenge Kälte eintrat und die Armee von den Verfolgungen der Kosaken heimgesucht wurde, begann das Schicksal derselben sich bereits zu vollziehen. Trotzdem, daß man noch immer reiche Vorräthe besaß, ertönten von allen Seiten Klagen über Hunger und schlechte Verpflegung, — inmitten des allgemeinen Chaos war an Ordnung und Regelmäßigkeit nicht zu denken. Wohin der Ver¬ wundeten-Transport auch kommt, überall findet er ein Heer von Marodeuren und Taugenichtsen vor, welche ihre Regimenter im Stich gelassen haben und vor diesen herlaufen, die Bewohner ihrer letzten Habe berauben und mi߬ handeln, über die mitgebrachten Vorräthe wie hungrige Wölfe herfallen, alle Quartiere besetzt halten, und alle Versuche, der nachrückenden Armee eine er¬ trägliche Aufnahme zu verschaffen, im Voraus Paralysiren. Die an strenge Zucht gewöhnten verwundeten polnischen Officiere. mit denen Brandt gemein¬ sam transportirt wurde, konnten anfangs gar nicht begreifen, was eigentlich geschehen sei; wohin sie auch kamen, fanden sie eine zahlreiche Armee vor, die aus Unbewaffneten aller Truppengattungen bestand — und doch sollte das Heer ihnen erst folgen. „Es sind ja gesunde starke Kerle", sagte Brandes Leidensgefährte Gorszynski diesem noch in Borifsow, „ich verstehe die Geschichte nicht, das können nur Leute sein, die zu irgend einem Zweck abge¬ schickt sind, die Lager sind gewiß hier in der Nähe." Als die beiden Cameraden den eigentlichen Zusammenhang der Dinge errathen, bleibt ihnen der einzige Trost, daß wenigstens keine Leute ihrer wesentlich aus Nichtfranzosen bestehenden Division dabei sind. — Natürlich sind all' die verspäteten Versuche, welche jetzt gemacht werden, um die Disciplin wieder herzustellen, vergeblich — die Insubordination hatte einen so hohen Grad erreicht, daß in der nächsten Umgebung des Kaisers Excesse aller Art vorkamen und die in den Tages¬ befehlen enthaltenen strengen Strafandrohungen verlacht wurden und nicht die geringste Wirkung übten. „Von einem Mangel an Lebensmitteln habe ich nur ab und zu etwas bemerkt", heißt es bei Brandt, „und zwar bei den Verwundeten und namentlich bei den Officieren. Wäre nur etwas Zucht in der Armee gewesen, so wären die Elementarereignisse, von denen man so viel geschwatzt, gewiß ohne Einfluß aus sie ge¬ blieben. „Die Officiere aller Grade und die verständigen Unterofficiere, mit denen ich gesprochen", heißt es an einer anderen Stelle, „waren einstimmig der Meinung, daß die Unordnung und lüderliche Zucht in der Armee den eigent¬ lichen Grund zu ihrer Auflösung gelegt. Lange ehe die Kälte oder der eigent¬ liche Mangel an Lebensmitteln begann, gab es tausend Unbewaffnete, die sich bei den Wagenburgen umhertrieben.......Sie waren einstimmig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/248>, abgerufen am 28.09.2024.