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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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die westpreußische Geschichte j'ner Periode Anregung zu geben. Es wäre
der Mühe werth, die localen Quellen darauf anzusehen, in wie weit sie die
Eindrücke bestätigen, welche unser Berichterstatter aus dem Kreise seiner Er¬
fahrungen gesammelt hat. Dem verabschiedeten königl. General der Infanterie,
der diese Erinnerungen niedergeschrieben, nachdem ein Menschenalter seit der
polnisch-französischen Occupation vergangen, sind Sympathien für dasselbe
nicht gut zu imputiren; im Gegentheil muß angenommen werden, daß das
Gefühl von der Richtigkeit seiner damaligen Beobachtungen ein ungewöhn¬
lich starkes gewesen, da es ein halbes Jahrhundert lang vorgehalten hat und
durch den preußischen Patriotismus des Verfassers auch später nicht beein-
trächtigt worden. Der ganze Abschnitt, auf welchen diese Aufzeichnungen
sich beziehen, ist ziemlich gründlich vergessen worden und zwar bevor man Zeit
gehabt, von demselben ein deutliches und umfassendes Bild zu entwerfen. Der
Wunsch, daß diese Versäumnis; nachgeholt und eine Sichtung und Bearbeitung
des betreffenden Materials wenigstens nachträglich vorgenommen werde, ist
uns durch das Brandt'sche Buch besonders nahegelegt worden.

Indem wir nochmals darauf aufmerksam machen, daß der Hauptinhalt
der ersten Hälfte dieses Bandes nicht auf Westpreußen, sondern auf des Ver¬
fassers spanische Abenteuer und Kämpfe Bezug hat, gehen wir zu der zweiten
Hälfte über, welche sich ausschließlich mit dem Feldzuge von 1812 beschäftigt
und in dem engen Rahmen von kaum zweihundert Seiten eine Fülle der
lehrreichsten Details über denselben gibt. Der rothe Faden, der sich durch
die gesammte Darstellung zieht, ist des Verfassers aus eigener Beobachtung
gewonnene und durch die Zeugnisse zahlreicher militärisch gebildeter und er¬
fahrener polnischer Officiere unterstützte Meinung, daß Napoleon die russische
Niederlage wesentlich selbst verschuldet habe, und zwar durch die unglaubliche
Zügellosigkeit, welche von vornherein in der großen Armee herrschte. Brandt,
der unter dem Commando des Grafen Claparede im Davoust'schen Corps
diente, wurde schon in der Umgegend von Wilna gewahr, daß die französi¬
schen Truppen in einer Weise demoralisirt waren, die der ganzen Armee das
schlechteste Beispiel gab und die er nach seinen spanischen Erlebnissen für un¬
möglich gehalten hatte. Die Zahl der Unbewaffneten und der Marodeure
nahm schon damals täglich zu und machte jede ordentliche Verwendung der
reichen Proviantvorräthe unmöglich -- Plünderungen und Excesse, die sonst
mit dem Tode bestraft worden waren, ließ man den Truppen dieses Mal
ungeahndet hingehen. Der Uebergang über den Niemen hatte das Bild
einer Unordnung geboten, wie sie schlimmer kaum gedacht werden konnte;
namentlich hatte es an jeder Controle darüber gefehlt, daß die Officiere
nicht überflüssiges Gepäck und unnütze Pferde mitnahmen. Von einem Re-


die westpreußische Geschichte j'ner Periode Anregung zu geben. Es wäre
der Mühe werth, die localen Quellen darauf anzusehen, in wie weit sie die
Eindrücke bestätigen, welche unser Berichterstatter aus dem Kreise seiner Er¬
fahrungen gesammelt hat. Dem verabschiedeten königl. General der Infanterie,
der diese Erinnerungen niedergeschrieben, nachdem ein Menschenalter seit der
polnisch-französischen Occupation vergangen, sind Sympathien für dasselbe
nicht gut zu imputiren; im Gegentheil muß angenommen werden, daß das
Gefühl von der Richtigkeit seiner damaligen Beobachtungen ein ungewöhn¬
lich starkes gewesen, da es ein halbes Jahrhundert lang vorgehalten hat und
durch den preußischen Patriotismus des Verfassers auch später nicht beein-
trächtigt worden. Der ganze Abschnitt, auf welchen diese Aufzeichnungen
sich beziehen, ist ziemlich gründlich vergessen worden und zwar bevor man Zeit
gehabt, von demselben ein deutliches und umfassendes Bild zu entwerfen. Der
Wunsch, daß diese Versäumnis; nachgeholt und eine Sichtung und Bearbeitung
des betreffenden Materials wenigstens nachträglich vorgenommen werde, ist
uns durch das Brandt'sche Buch besonders nahegelegt worden.

Indem wir nochmals darauf aufmerksam machen, daß der Hauptinhalt
der ersten Hälfte dieses Bandes nicht auf Westpreußen, sondern auf des Ver¬
fassers spanische Abenteuer und Kämpfe Bezug hat, gehen wir zu der zweiten
Hälfte über, welche sich ausschließlich mit dem Feldzuge von 1812 beschäftigt
und in dem engen Rahmen von kaum zweihundert Seiten eine Fülle der
lehrreichsten Details über denselben gibt. Der rothe Faden, der sich durch
die gesammte Darstellung zieht, ist des Verfassers aus eigener Beobachtung
gewonnene und durch die Zeugnisse zahlreicher militärisch gebildeter und er¬
fahrener polnischer Officiere unterstützte Meinung, daß Napoleon die russische
Niederlage wesentlich selbst verschuldet habe, und zwar durch die unglaubliche
Zügellosigkeit, welche von vornherein in der großen Armee herrschte. Brandt,
der unter dem Commando des Grafen Claparede im Davoust'schen Corps
diente, wurde schon in der Umgegend von Wilna gewahr, daß die französi¬
schen Truppen in einer Weise demoralisirt waren, die der ganzen Armee das
schlechteste Beispiel gab und die er nach seinen spanischen Erlebnissen für un¬
möglich gehalten hatte. Die Zahl der Unbewaffneten und der Marodeure
nahm schon damals täglich zu und machte jede ordentliche Verwendung der
reichen Proviantvorräthe unmöglich — Plünderungen und Excesse, die sonst
mit dem Tode bestraft worden waren, ließ man den Truppen dieses Mal
ungeahndet hingehen. Der Uebergang über den Niemen hatte das Bild
einer Unordnung geboten, wie sie schlimmer kaum gedacht werden konnte;
namentlich hatte es an jeder Controle darüber gefehlt, daß die Officiere
nicht überflüssiges Gepäck und unnütze Pferde mitnahmen. Von einem Re-


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[0246] die westpreußische Geschichte j'ner Periode Anregung zu geben. Es wäre der Mühe werth, die localen Quellen darauf anzusehen, in wie weit sie die Eindrücke bestätigen, welche unser Berichterstatter aus dem Kreise seiner Er¬ fahrungen gesammelt hat. Dem verabschiedeten königl. General der Infanterie, der diese Erinnerungen niedergeschrieben, nachdem ein Menschenalter seit der polnisch-französischen Occupation vergangen, sind Sympathien für dasselbe nicht gut zu imputiren; im Gegentheil muß angenommen werden, daß das Gefühl von der Richtigkeit seiner damaligen Beobachtungen ein ungewöhn¬ lich starkes gewesen, da es ein halbes Jahrhundert lang vorgehalten hat und durch den preußischen Patriotismus des Verfassers auch später nicht beein- trächtigt worden. Der ganze Abschnitt, auf welchen diese Aufzeichnungen sich beziehen, ist ziemlich gründlich vergessen worden und zwar bevor man Zeit gehabt, von demselben ein deutliches und umfassendes Bild zu entwerfen. Der Wunsch, daß diese Versäumnis; nachgeholt und eine Sichtung und Bearbeitung des betreffenden Materials wenigstens nachträglich vorgenommen werde, ist uns durch das Brandt'sche Buch besonders nahegelegt worden. Indem wir nochmals darauf aufmerksam machen, daß der Hauptinhalt der ersten Hälfte dieses Bandes nicht auf Westpreußen, sondern auf des Ver¬ fassers spanische Abenteuer und Kämpfe Bezug hat, gehen wir zu der zweiten Hälfte über, welche sich ausschließlich mit dem Feldzuge von 1812 beschäftigt und in dem engen Rahmen von kaum zweihundert Seiten eine Fülle der lehrreichsten Details über denselben gibt. Der rothe Faden, der sich durch die gesammte Darstellung zieht, ist des Verfassers aus eigener Beobachtung gewonnene und durch die Zeugnisse zahlreicher militärisch gebildeter und er¬ fahrener polnischer Officiere unterstützte Meinung, daß Napoleon die russische Niederlage wesentlich selbst verschuldet habe, und zwar durch die unglaubliche Zügellosigkeit, welche von vornherein in der großen Armee herrschte. Brandt, der unter dem Commando des Grafen Claparede im Davoust'schen Corps diente, wurde schon in der Umgegend von Wilna gewahr, daß die französi¬ schen Truppen in einer Weise demoralisirt waren, die der ganzen Armee das schlechteste Beispiel gab und die er nach seinen spanischen Erlebnissen für un¬ möglich gehalten hatte. Die Zahl der Unbewaffneten und der Marodeure nahm schon damals täglich zu und machte jede ordentliche Verwendung der reichen Proviantvorräthe unmöglich — Plünderungen und Excesse, die sonst mit dem Tode bestraft worden waren, ließ man den Truppen dieses Mal ungeahndet hingehen. Der Uebergang über den Niemen hatte das Bild einer Unordnung geboten, wie sie schlimmer kaum gedacht werden konnte; namentlich hatte es an jeder Controle darüber gefehlt, daß die Officiere nicht überflüssiges Gepäck und unnütze Pferde mitnahmen. Von einem Re-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/246>, abgerufen am 28.09.2024.