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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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sondern in die Magazine; der Viehhandel, der sonst so bedeutend gewesen,
war kaum der Rede werth, überall herrschte Armuth, Noth, Unzufriedenheit
und Sehnsucht nach Besserung der Verhältnisse." Die 48 Stunden, die
Brandt im elterlichen Hause zubringt, sind ihm eine wahre Qual, denn er sieht
"überall Leiden und Elend, die aber stets in eine gesetzliche Form gegossen
und dadurch um so unerträglicher sind." Als der junge Lieutenant (der
Zeuge davon gewesen, wie die Scheunen eines der Vorwerke von den durch-
marschirenden Truppen so vollständig ausgeräumt worden, daß nicht ein
Mal das nöthigste Pferdefutter übrig geblieben) abreist, gibt sein Bruder
ihm eines der letzten Pferde mit. die aus dem sonst so reichen Pferdebestande
übrig geblieben. -- Aber. -- was das Schlimmste ist -- trotz aller sehn¬
süchtigen Erinnerungen an die alten guten Zeiten des preußischen Regiments
wird dasselbe eigentlich von Niemand mehr zurückgewünscht. Der geistlose,
pedantische und despotische Mechanismus, zu welchem Friedrichs System unter
seinen Nachfolgern herabgesunken war, hatte auch auf den westpreußischen
Landschaften so bleiern gelastet, die Allmacht der Bureaukratie des Einzelnen
freie Bewegung so peinlich eingeengt, daß die meisten Leute nicht mehr daran
dachten, wem sie eigentlich zu danken gehabt, daß die wüste polnische Wirthschaft
gebrochen, das Land zu einem geordneten Organismus geworden war. Die
Erinnerung an Preußen war identisch mit der an eine unerträgliche Bevor¬
mundung. Die neuen Beamten waren dagegen von einer Freundlichkeit
und Leutseligkeit, die gegen die Hoffart der strammen Bureaukraten alter
Schule zu gründlich contrastirte, um nicht als Wohlthat empfunden zu wer¬
den, die "unglaublichen Schreibereien", mit denen man die Regierten sonst
heimgesucht, hatten einem musterhaft einfachen Verfahren Platz gemacht --
man war trotz der verzweifelten Lage des Landes mit den neuen Behörden
im Ganzen zufrieden und legte denselben keine Schuld an dem allgemeinen
Elend bei, während die Wohlthaten der alten Regierung über der unbe¬
quemen "Beglückungs- und Unterrichtswuth" ihrer Beamten und jener
"Borussomanie, die Alles aä inoäum des alten Landes modeln wollte", ver¬
gessen waren.

Obgleich das im Grunde Alles ist, was wir aus dem Brandt'schen Buche
über die polnisch-französische Episode der westpreußischen Provinzialgeschichte
erfahren, so verdient dasselbe doch schon um dieser Mittheilungen willen be¬
sondere Beachtung. Nicht nur, daß sich aus den angehängten Bemerkungen
des Verfassers über die Gründe der damals in Westpreußen herrschenden
Stimmung auch für die Gegenwart und die Behandlung der gegenwärtig
neupreußischen Provinzen Manches lernen läßt -- die berichteten Thatsachen
sind an und für sich bedeutsam genug, um zu eingehenderer Forschung in


Grenzboten I. t869, 30

sondern in die Magazine; der Viehhandel, der sonst so bedeutend gewesen,
war kaum der Rede werth, überall herrschte Armuth, Noth, Unzufriedenheit
und Sehnsucht nach Besserung der Verhältnisse." Die 48 Stunden, die
Brandt im elterlichen Hause zubringt, sind ihm eine wahre Qual, denn er sieht
„überall Leiden und Elend, die aber stets in eine gesetzliche Form gegossen
und dadurch um so unerträglicher sind." Als der junge Lieutenant (der
Zeuge davon gewesen, wie die Scheunen eines der Vorwerke von den durch-
marschirenden Truppen so vollständig ausgeräumt worden, daß nicht ein
Mal das nöthigste Pferdefutter übrig geblieben) abreist, gibt sein Bruder
ihm eines der letzten Pferde mit. die aus dem sonst so reichen Pferdebestande
übrig geblieben. — Aber. — was das Schlimmste ist — trotz aller sehn¬
süchtigen Erinnerungen an die alten guten Zeiten des preußischen Regiments
wird dasselbe eigentlich von Niemand mehr zurückgewünscht. Der geistlose,
pedantische und despotische Mechanismus, zu welchem Friedrichs System unter
seinen Nachfolgern herabgesunken war, hatte auch auf den westpreußischen
Landschaften so bleiern gelastet, die Allmacht der Bureaukratie des Einzelnen
freie Bewegung so peinlich eingeengt, daß die meisten Leute nicht mehr daran
dachten, wem sie eigentlich zu danken gehabt, daß die wüste polnische Wirthschaft
gebrochen, das Land zu einem geordneten Organismus geworden war. Die
Erinnerung an Preußen war identisch mit der an eine unerträgliche Bevor¬
mundung. Die neuen Beamten waren dagegen von einer Freundlichkeit
und Leutseligkeit, die gegen die Hoffart der strammen Bureaukraten alter
Schule zu gründlich contrastirte, um nicht als Wohlthat empfunden zu wer¬
den, die „unglaublichen Schreibereien", mit denen man die Regierten sonst
heimgesucht, hatten einem musterhaft einfachen Verfahren Platz gemacht —
man war trotz der verzweifelten Lage des Landes mit den neuen Behörden
im Ganzen zufrieden und legte denselben keine Schuld an dem allgemeinen
Elend bei, während die Wohlthaten der alten Regierung über der unbe¬
quemen „Beglückungs- und Unterrichtswuth" ihrer Beamten und jener
„Borussomanie, die Alles aä inoäum des alten Landes modeln wollte", ver¬
gessen waren.

Obgleich das im Grunde Alles ist, was wir aus dem Brandt'schen Buche
über die polnisch-französische Episode der westpreußischen Provinzialgeschichte
erfahren, so verdient dasselbe doch schon um dieser Mittheilungen willen be¬
sondere Beachtung. Nicht nur, daß sich aus den angehängten Bemerkungen
des Verfassers über die Gründe der damals in Westpreußen herrschenden
Stimmung auch für die Gegenwart und die Behandlung der gegenwärtig
neupreußischen Provinzen Manches lernen läßt — die berichteten Thatsachen
sind an und für sich bedeutsam genug, um zu eingehenderer Forschung in


Grenzboten I. t869, 30
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/245>, abgerufen am 28.09.2024.