Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Soweit die Erzählung Kalmykows. der Bürger von Saratow, der erst
im I. 1825 starb. Ein anderer Zeuge der Belagerung und Einnahme dieses
Orts berichtet Folgendes: "Als Pugatschew Saratow beschoß, trat einer seiner
Generale zu ihm und berichtete, daß es plötzlich an Kugeln und Kartät¬
schen fehle.

"Das ist kein Unglück, mindestens kein großes: Ihr hattet das Unglück,
keinen Herrscher zu haben, und jetzt habt Ihr einen. Ihr werdet bald
auch Kugeln und Kartätschen haben."

"Aber wir haben jetzt keine, Majestät."

"Nehmt die Stadt, dort werdet Ihr Munition genug finden. Der
Kaiser von Nußland hat viele Städte und viele Vorräthe, wie kannst Du
sagen, daß keine Kugeln vorhanden seien? Seht, dort die großen Säcke mit
kupferner Scheidemünze -- gebraucht sie als Ladung und schießt damit für
meine Rechnung. Mögen meine Unterthanen erfahren, daß ich der Güter
viele habe."

Die Scheidemünze wurde wirklich in die Kanonen geladen und in die
Stadt geschossen. Als das Volk von Saratow gewahr wurde, daß die feind¬
lichen Geschütze Geld zu ihm brächten, hieß es von vielen Seiten: "Laßt uns
dem Vater Zaren entgegenziehen -- er hat mit Geld nach uns geschossen,
er muß reiche Cassen mit sich führen. Nicht umsonst wird gesagt, daß er
ein gnädiger Zar sei. Andere machten geltend, daß das Geld ja ursprüng¬
lich der Kaiserin gehört habe, aber die Anhänger des Rebellen gewannen
bald die Oberhand und setzten durch, daß man sich ihm unterwarf. Ein be¬
trunkener Schreiber bestieg den Glockenthurm der Kathedrale und haranguirte
das Volk in unsinniger Rede, sich dem neuen Kaiser und dem wahren
Kreuz, das dieser auf seine Fahne führe, zu unterwerfen."

Was sonst von der Unbildung und Urteilslosigkeit des Volks erzählt
wird, klingt geradezu märchenhaft. Pugatschew, der, wie alle Welt wußte,
weder lesen noch schreiben konnte und darum beständig mehrere Schreiber bei
sich hatte, galt nicht nur für den Kaiser, es gelang ihm nicht nur, dem
Volk einzubilden, daß sein Genosse Tschita der Graf Tschernytschew. Owt-
schinikow Graf Parm, Schigajew Graf Woronzow sei -- er brachte es eine
Zeitlang sogar dahin, daß seine Residenz Kargale für die Hauptstadt Peters¬
burg. Berta für das heilige Moskau galt!

Seine geschriebenen Proclamationen fanden fast überall mehr Glauben,
als die gedruckten kaiserlichen Manifeste, die, nachdem sie wiederholt Un¬
wahrheiten verbreitet, allen Credit verloren hatten und schließlich durch ge¬
schriebene Proclamationen ersetzt werden mußten. Daß die Schriftstücke,
welche Pugatschew in die Welt sandte, auf Befehl des Senats öffentlich durch
Henkershand verbrannt wurden, erhöhte lediglich ihre Bedeutung in den


Soweit die Erzählung Kalmykows. der Bürger von Saratow, der erst
im I. 1825 starb. Ein anderer Zeuge der Belagerung und Einnahme dieses
Orts berichtet Folgendes: „Als Pugatschew Saratow beschoß, trat einer seiner
Generale zu ihm und berichtete, daß es plötzlich an Kugeln und Kartät¬
schen fehle.

„Das ist kein Unglück, mindestens kein großes: Ihr hattet das Unglück,
keinen Herrscher zu haben, und jetzt habt Ihr einen. Ihr werdet bald
auch Kugeln und Kartätschen haben."

„Aber wir haben jetzt keine, Majestät."

„Nehmt die Stadt, dort werdet Ihr Munition genug finden. Der
Kaiser von Nußland hat viele Städte und viele Vorräthe, wie kannst Du
sagen, daß keine Kugeln vorhanden seien? Seht, dort die großen Säcke mit
kupferner Scheidemünze — gebraucht sie als Ladung und schießt damit für
meine Rechnung. Mögen meine Unterthanen erfahren, daß ich der Güter
viele habe."

Die Scheidemünze wurde wirklich in die Kanonen geladen und in die
Stadt geschossen. Als das Volk von Saratow gewahr wurde, daß die feind¬
lichen Geschütze Geld zu ihm brächten, hieß es von vielen Seiten: „Laßt uns
dem Vater Zaren entgegenziehen — er hat mit Geld nach uns geschossen,
er muß reiche Cassen mit sich führen. Nicht umsonst wird gesagt, daß er
ein gnädiger Zar sei. Andere machten geltend, daß das Geld ja ursprüng¬
lich der Kaiserin gehört habe, aber die Anhänger des Rebellen gewannen
bald die Oberhand und setzten durch, daß man sich ihm unterwarf. Ein be¬
trunkener Schreiber bestieg den Glockenthurm der Kathedrale und haranguirte
das Volk in unsinniger Rede, sich dem neuen Kaiser und dem wahren
Kreuz, das dieser auf seine Fahne führe, zu unterwerfen."

Was sonst von der Unbildung und Urteilslosigkeit des Volks erzählt
wird, klingt geradezu märchenhaft. Pugatschew, der, wie alle Welt wußte,
weder lesen noch schreiben konnte und darum beständig mehrere Schreiber bei
sich hatte, galt nicht nur für den Kaiser, es gelang ihm nicht nur, dem
Volk einzubilden, daß sein Genosse Tschita der Graf Tschernytschew. Owt-
schinikow Graf Parm, Schigajew Graf Woronzow sei — er brachte es eine
Zeitlang sogar dahin, daß seine Residenz Kargale für die Hauptstadt Peters¬
burg. Berta für das heilige Moskau galt!

Seine geschriebenen Proclamationen fanden fast überall mehr Glauben,
als die gedruckten kaiserlichen Manifeste, die, nachdem sie wiederholt Un¬
wahrheiten verbreitet, allen Credit verloren hatten und schließlich durch ge¬
schriebene Proclamationen ersetzt werden mußten. Daß die Schriftstücke,
welche Pugatschew in die Welt sandte, auf Befehl des Senats öffentlich durch
Henkershand verbrannt wurden, erhöhte lediglich ihre Bedeutung in den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0238" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120427"/>
          <p xml:id="ID_693"> Soweit die Erzählung Kalmykows. der Bürger von Saratow, der erst<lb/>
im I. 1825 starb. Ein anderer Zeuge der Belagerung und Einnahme dieses<lb/>
Orts berichtet Folgendes: &#x201E;Als Pugatschew Saratow beschoß, trat einer seiner<lb/>
Generale zu ihm und berichtete, daß es plötzlich an Kugeln und Kartät¬<lb/>
schen fehle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_694"> &#x201E;Das ist kein Unglück, mindestens kein großes: Ihr hattet das Unglück,<lb/>
keinen Herrscher zu haben, und jetzt habt Ihr einen. Ihr werdet bald<lb/>
auch Kugeln und Kartätschen haben."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_695"> &#x201E;Aber wir haben jetzt keine, Majestät."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_696"> &#x201E;Nehmt die Stadt, dort werdet Ihr Munition genug finden. Der<lb/>
Kaiser von Nußland hat viele Städte und viele Vorräthe, wie kannst Du<lb/>
sagen, daß keine Kugeln vorhanden seien? Seht, dort die großen Säcke mit<lb/>
kupferner Scheidemünze &#x2014; gebraucht sie als Ladung und schießt damit für<lb/>
meine Rechnung. Mögen meine Unterthanen erfahren, daß ich der Güter<lb/>
viele habe."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_697"> Die Scheidemünze wurde wirklich in die Kanonen geladen und in die<lb/>
Stadt geschossen. Als das Volk von Saratow gewahr wurde, daß die feind¬<lb/>
lichen Geschütze Geld zu ihm brächten, hieß es von vielen Seiten: &#x201E;Laßt uns<lb/>
dem Vater Zaren entgegenziehen &#x2014; er hat mit Geld nach uns geschossen,<lb/>
er muß reiche Cassen mit sich führen. Nicht umsonst wird gesagt, daß er<lb/>
ein gnädiger Zar sei. Andere machten geltend, daß das Geld ja ursprüng¬<lb/>
lich der Kaiserin gehört habe, aber die Anhänger des Rebellen gewannen<lb/>
bald die Oberhand und setzten durch, daß man sich ihm unterwarf. Ein be¬<lb/>
trunkener Schreiber bestieg den Glockenthurm der Kathedrale und haranguirte<lb/>
das Volk in unsinniger Rede, sich dem neuen Kaiser und dem wahren<lb/>
Kreuz, das dieser auf seine Fahne führe, zu unterwerfen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_698"> Was sonst von der Unbildung und Urteilslosigkeit des Volks erzählt<lb/>
wird, klingt geradezu märchenhaft. Pugatschew, der, wie alle Welt wußte,<lb/>
weder lesen noch schreiben konnte und darum beständig mehrere Schreiber bei<lb/>
sich hatte, galt nicht nur für den Kaiser, es gelang ihm nicht nur, dem<lb/>
Volk einzubilden, daß sein Genosse Tschita der Graf Tschernytschew. Owt-<lb/>
schinikow Graf Parm, Schigajew Graf Woronzow sei &#x2014; er brachte es eine<lb/>
Zeitlang sogar dahin, daß seine Residenz Kargale für die Hauptstadt Peters¬<lb/>
burg. Berta für das heilige Moskau galt!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_699" next="#ID_700"> Seine geschriebenen Proclamationen fanden fast überall mehr Glauben,<lb/>
als die gedruckten kaiserlichen Manifeste, die, nachdem sie wiederholt Un¬<lb/>
wahrheiten verbreitet, allen Credit verloren hatten und schließlich durch ge¬<lb/>
schriebene Proclamationen ersetzt werden mußten. Daß die Schriftstücke,<lb/>
welche Pugatschew in die Welt sandte, auf Befehl des Senats öffentlich durch<lb/>
Henkershand verbrannt wurden, erhöhte lediglich ihre Bedeutung in den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0238] Soweit die Erzählung Kalmykows. der Bürger von Saratow, der erst im I. 1825 starb. Ein anderer Zeuge der Belagerung und Einnahme dieses Orts berichtet Folgendes: „Als Pugatschew Saratow beschoß, trat einer seiner Generale zu ihm und berichtete, daß es plötzlich an Kugeln und Kartät¬ schen fehle. „Das ist kein Unglück, mindestens kein großes: Ihr hattet das Unglück, keinen Herrscher zu haben, und jetzt habt Ihr einen. Ihr werdet bald auch Kugeln und Kartätschen haben." „Aber wir haben jetzt keine, Majestät." „Nehmt die Stadt, dort werdet Ihr Munition genug finden. Der Kaiser von Nußland hat viele Städte und viele Vorräthe, wie kannst Du sagen, daß keine Kugeln vorhanden seien? Seht, dort die großen Säcke mit kupferner Scheidemünze — gebraucht sie als Ladung und schießt damit für meine Rechnung. Mögen meine Unterthanen erfahren, daß ich der Güter viele habe." Die Scheidemünze wurde wirklich in die Kanonen geladen und in die Stadt geschossen. Als das Volk von Saratow gewahr wurde, daß die feind¬ lichen Geschütze Geld zu ihm brächten, hieß es von vielen Seiten: „Laßt uns dem Vater Zaren entgegenziehen — er hat mit Geld nach uns geschossen, er muß reiche Cassen mit sich führen. Nicht umsonst wird gesagt, daß er ein gnädiger Zar sei. Andere machten geltend, daß das Geld ja ursprüng¬ lich der Kaiserin gehört habe, aber die Anhänger des Rebellen gewannen bald die Oberhand und setzten durch, daß man sich ihm unterwarf. Ein be¬ trunkener Schreiber bestieg den Glockenthurm der Kathedrale und haranguirte das Volk in unsinniger Rede, sich dem neuen Kaiser und dem wahren Kreuz, das dieser auf seine Fahne führe, zu unterwerfen." Was sonst von der Unbildung und Urteilslosigkeit des Volks erzählt wird, klingt geradezu märchenhaft. Pugatschew, der, wie alle Welt wußte, weder lesen noch schreiben konnte und darum beständig mehrere Schreiber bei sich hatte, galt nicht nur für den Kaiser, es gelang ihm nicht nur, dem Volk einzubilden, daß sein Genosse Tschita der Graf Tschernytschew. Owt- schinikow Graf Parm, Schigajew Graf Woronzow sei — er brachte es eine Zeitlang sogar dahin, daß seine Residenz Kargale für die Hauptstadt Peters¬ burg. Berta für das heilige Moskau galt! Seine geschriebenen Proclamationen fanden fast überall mehr Glauben, als die gedruckten kaiserlichen Manifeste, die, nachdem sie wiederholt Un¬ wahrheiten verbreitet, allen Credit verloren hatten und schließlich durch ge¬ schriebene Proclamationen ersetzt werden mußten. Daß die Schriftstücke, welche Pugatschew in die Welt sandte, auf Befehl des Senats öffentlich durch Henkershand verbrannt wurden, erhöhte lediglich ihre Bedeutung in den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/238
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/238>, abgerufen am 28.09.2024.