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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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kunst und Asyl finden. Beim Herannahen der Todesstunde ist dagegen jeder
Gerechte verpflichtet, sich auf das freie Feld oder in den Wald tragen zu
lassen, damit er als "auf der Flucht" gestorben angesehen werden könne. --
Diese Secte existirt noch heute und steht bei dem niederen Volk in hohem
Ansehen; die unheimliche Gestalt des Wanderers, der sich dem Mönchsstande
zuzählt, die Ehe als Todsünde verwirft (weil ihre Einsegnung seit Auf¬
lösung des wahren Priesterthums unmöglich ist) und blos ein freies "Zu¬
sammenleben der Geschlechter gestattet", ist eine echt nationale Figur, die in
den Dörfern und Städten des weiten Reichs häufig genug auftaucht und
auf Jeden, der sie ein Mal gesehen, durch ihre Wildheit einen unauslösch¬
lichen Eindruck macht.

Ein solcher "Wanderer" ist Nifont. "Wie hast Du wagen können, den
Leuten zu erzählen, daß man den verstorbenen Kaiser habe durch Gist um¬
bringen wollen und daß er noch lebe", fragt der Richter.

"Das habe ich mir nicht ausgedacht. Der Kaiser lebt, ich habe ihn
gesehen und seine fürstliche Hand küssen dürfen."

"Du hast nicht den Kaiser, sondern den Staatsverbrecher Pugatschew
gesehen."

"Nein, es war nicht Pugatschew, sondern der Kaiser Peter der Dritte.
Wenn er es nicht selbst gewesen wäre, so hätte man seinen Namen nicht in
den Kirchen proclamirt."

Damit ist das Verhör beendet, aber auch die Sache in den Augen des
Volks entschieden. Der Wanderer ist eine heilige Person, sein Argument
unwiderleglich. Wenige Tage später hielt Pugatschew seinen feierlichen Einzug
in die Thore des halbverbrannten Saratow.

Scenen ähnlicher Art werden aus den verschiedensten Orten berichtet,
überall wird der Feind der Beamten und Edelleute als politischer Messias
begrüßt, der bekannte Dichter Dershawin. der den Versuch machte eine
Anzahl Truppen zu sammeln und Saratow vor den Rebellen zu schützen,
mußte dieses Unternehmen aufgeben, weil das gemeine Volk und die Sol¬
daten schaarenweise zu Pugatschew übergingen, noch bevor er sich gezeigt
hatte. Fumatow, der Befehlshaber der Festung Petrowsk, schrieb ihm, sein
eigener Secretär und der oberste Officier seien davongelaufen, nur zehn
Mann von der gesammten Besatzung übrig geblieben, und auch diese nicht
zuverlässig.

Ueber die Belagerung und Einnahme Saratow's enthält das Mordaw-
zew'sche Buch den eingehenden Bericht eines Augenzeugen Namens Kalmykow.
Im Gegensatz zu den bisherigen Schilderungen, deren Hauptquelle das be-
kannte Puschkin'sche Werk ist, erfahren wir. daß die Vertheidigung dieser
Stadt eine sehr ungenügende war. Nachdem Putgatschew die ihm entgegen-


kunst und Asyl finden. Beim Herannahen der Todesstunde ist dagegen jeder
Gerechte verpflichtet, sich auf das freie Feld oder in den Wald tragen zu
lassen, damit er als „auf der Flucht" gestorben angesehen werden könne. —
Diese Secte existirt noch heute und steht bei dem niederen Volk in hohem
Ansehen; die unheimliche Gestalt des Wanderers, der sich dem Mönchsstande
zuzählt, die Ehe als Todsünde verwirft (weil ihre Einsegnung seit Auf¬
lösung des wahren Priesterthums unmöglich ist) und blos ein freies „Zu¬
sammenleben der Geschlechter gestattet", ist eine echt nationale Figur, die in
den Dörfern und Städten des weiten Reichs häufig genug auftaucht und
auf Jeden, der sie ein Mal gesehen, durch ihre Wildheit einen unauslösch¬
lichen Eindruck macht.

Ein solcher „Wanderer" ist Nifont. „Wie hast Du wagen können, den
Leuten zu erzählen, daß man den verstorbenen Kaiser habe durch Gist um¬
bringen wollen und daß er noch lebe", fragt der Richter.

„Das habe ich mir nicht ausgedacht. Der Kaiser lebt, ich habe ihn
gesehen und seine fürstliche Hand küssen dürfen."

„Du hast nicht den Kaiser, sondern den Staatsverbrecher Pugatschew
gesehen."

„Nein, es war nicht Pugatschew, sondern der Kaiser Peter der Dritte.
Wenn er es nicht selbst gewesen wäre, so hätte man seinen Namen nicht in
den Kirchen proclamirt."

Damit ist das Verhör beendet, aber auch die Sache in den Augen des
Volks entschieden. Der Wanderer ist eine heilige Person, sein Argument
unwiderleglich. Wenige Tage später hielt Pugatschew seinen feierlichen Einzug
in die Thore des halbverbrannten Saratow.

Scenen ähnlicher Art werden aus den verschiedensten Orten berichtet,
überall wird der Feind der Beamten und Edelleute als politischer Messias
begrüßt, der bekannte Dichter Dershawin. der den Versuch machte eine
Anzahl Truppen zu sammeln und Saratow vor den Rebellen zu schützen,
mußte dieses Unternehmen aufgeben, weil das gemeine Volk und die Sol¬
daten schaarenweise zu Pugatschew übergingen, noch bevor er sich gezeigt
hatte. Fumatow, der Befehlshaber der Festung Petrowsk, schrieb ihm, sein
eigener Secretär und der oberste Officier seien davongelaufen, nur zehn
Mann von der gesammten Besatzung übrig geblieben, und auch diese nicht
zuverlässig.

Ueber die Belagerung und Einnahme Saratow's enthält das Mordaw-
zew'sche Buch den eingehenden Bericht eines Augenzeugen Namens Kalmykow.
Im Gegensatz zu den bisherigen Schilderungen, deren Hauptquelle das be-
kannte Puschkin'sche Werk ist, erfahren wir. daß die Vertheidigung dieser
Stadt eine sehr ungenügende war. Nachdem Putgatschew die ihm entgegen-


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[0235] kunst und Asyl finden. Beim Herannahen der Todesstunde ist dagegen jeder Gerechte verpflichtet, sich auf das freie Feld oder in den Wald tragen zu lassen, damit er als „auf der Flucht" gestorben angesehen werden könne. — Diese Secte existirt noch heute und steht bei dem niederen Volk in hohem Ansehen; die unheimliche Gestalt des Wanderers, der sich dem Mönchsstande zuzählt, die Ehe als Todsünde verwirft (weil ihre Einsegnung seit Auf¬ lösung des wahren Priesterthums unmöglich ist) und blos ein freies „Zu¬ sammenleben der Geschlechter gestattet", ist eine echt nationale Figur, die in den Dörfern und Städten des weiten Reichs häufig genug auftaucht und auf Jeden, der sie ein Mal gesehen, durch ihre Wildheit einen unauslösch¬ lichen Eindruck macht. Ein solcher „Wanderer" ist Nifont. „Wie hast Du wagen können, den Leuten zu erzählen, daß man den verstorbenen Kaiser habe durch Gist um¬ bringen wollen und daß er noch lebe", fragt der Richter. „Das habe ich mir nicht ausgedacht. Der Kaiser lebt, ich habe ihn gesehen und seine fürstliche Hand küssen dürfen." „Du hast nicht den Kaiser, sondern den Staatsverbrecher Pugatschew gesehen." „Nein, es war nicht Pugatschew, sondern der Kaiser Peter der Dritte. Wenn er es nicht selbst gewesen wäre, so hätte man seinen Namen nicht in den Kirchen proclamirt." Damit ist das Verhör beendet, aber auch die Sache in den Augen des Volks entschieden. Der Wanderer ist eine heilige Person, sein Argument unwiderleglich. Wenige Tage später hielt Pugatschew seinen feierlichen Einzug in die Thore des halbverbrannten Saratow. Scenen ähnlicher Art werden aus den verschiedensten Orten berichtet, überall wird der Feind der Beamten und Edelleute als politischer Messias begrüßt, der bekannte Dichter Dershawin. der den Versuch machte eine Anzahl Truppen zu sammeln und Saratow vor den Rebellen zu schützen, mußte dieses Unternehmen aufgeben, weil das gemeine Volk und die Sol¬ daten schaarenweise zu Pugatschew übergingen, noch bevor er sich gezeigt hatte. Fumatow, der Befehlshaber der Festung Petrowsk, schrieb ihm, sein eigener Secretär und der oberste Officier seien davongelaufen, nur zehn Mann von der gesammten Besatzung übrig geblieben, und auch diese nicht zuverlässig. Ueber die Belagerung und Einnahme Saratow's enthält das Mordaw- zew'sche Buch den eingehenden Bericht eines Augenzeugen Namens Kalmykow. Im Gegensatz zu den bisherigen Schilderungen, deren Hauptquelle das be- kannte Puschkin'sche Werk ist, erfahren wir. daß die Vertheidigung dieser Stadt eine sehr ungenügende war. Nachdem Putgatschew die ihm entgegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/235>, abgerufen am 28.09.2024.