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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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lich die Salzträger, welche auf dem Markt beschäftigt sind, umringen den ent¬
setzten Edelmann mit drohenden Mienen. Lasar ist in förmliche Raserei ge¬
rathen und schreit aus Leibeskräften:

"An den Galgen mit allen Herren und Beamten."

"Nehmt ihn fest, guten Leute", bittet der Edelmann.

"Ergreift ihn -- hängt alle Eure Peiniger, keiner von ihnen soll uns
entrinnen."

Ein Dutzend kräftiger Fäuste hat den- unglücklichen Unshenzow gepackt.
Lasar aber ruft denselben zu: "Der große Zar Peter Feodorowitsch bringt
uns Allen die Freiheit. Wir müssen uns bei ihm eine Belohnung verdienen
und all' die Bösewichter und Verräther vernichten, welche den wahren Herr¬
scher beseitigen wollten, um unsern Lohn zu verzehren."

Der wüthende Pöbel fällt über Unshenzow und die Beamten des
Salzcommissariats her. welche diesem zu Hilfe geeilt sind. Unshenzow ruft
Soldaten herbei, Lasar und die von ihm aufgestachelter Proletarier springen
in ein Boot und entfliehen, ohne daß man ihrer habhaft werden kann. Das
Gerücht von diesem Auftritt verbreitet sich in der Stadt und erzeugt all¬
gemeine Aufregung und Angst. Die Autorität der Behörden ist vernichtet,
seitdem der eine Proletarier die Kunde von dem neuen Kaiser verbreitet hat.
Ein Kaufmann, der der Krone unentgeltlich Eisen geliefert hat, damit
dasselbe für die Waffen verwandt werden könne, welche man zur Vertheidi¬
gung gegen die heranrückenden Rebellen vertheilen will, wird von einer
Schaar Bauern halb todt geschlagen, ohne daß die Behörden einzuschreiten
wagen. -- Einige Tage später wird ein Manu vor das saratower Stadtgericht
geführt, der schädliche Nachrichten verbreitet haben soll. Er nennt sich den
"Wanderer Nifont" und ist ein ehemaliger Kaufmann Korjakin. -- Die
"Wanderer" bilden bekanntlich die gefährlichste und phantastischste aller alt¬
gläubigen Secten und gehören dem priesterlosen Typus derselben an. Ihrer
Anschauung nach ist die gesammte sittliche Weltordnung durch die russische
Kirchenreformation des 16. Jahrhunderts aufgelöst, der Teufel zeitweise in die
Herrschaft über die Welt eingesetzt worden und jede Betheiligung am Staats¬
oder Kirchenwesen reiner Teufelsdienst, dem die Frommen sich durch Flucht
und ruhelose Wanderung entziehen müssen. Selbst die Annahme eines Passes
ist schwere Sünde, denn sie wird als Anerkennung des Reichs dieser Welt
angesehen. Die Gerechten dürfen nirgend eine Heimath haben, die Flucht
vor der Welt ist ihr Beruf, das einzige Mittel zur Rettung der Seele.
Denen, die noch nicht die Kraft haben, mit dem Reich des Bösen vollständig
zu brechen, wird "um ihrer Schwachheit" willen gestattet, zeitweise einen
bürgerlichen Beruf zu treiben und festen Wohnsitz zu nehmen; aber sie müssen
heimliche Kammern Herrichten, in denen die Wanderer jeder Zeit Unter.


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lich die Salzträger, welche auf dem Markt beschäftigt sind, umringen den ent¬
setzten Edelmann mit drohenden Mienen. Lasar ist in förmliche Raserei ge¬
rathen und schreit aus Leibeskräften:

„An den Galgen mit allen Herren und Beamten."

„Nehmt ihn fest, guten Leute", bittet der Edelmann.

„Ergreift ihn — hängt alle Eure Peiniger, keiner von ihnen soll uns
entrinnen."

Ein Dutzend kräftiger Fäuste hat den- unglücklichen Unshenzow gepackt.
Lasar aber ruft denselben zu: „Der große Zar Peter Feodorowitsch bringt
uns Allen die Freiheit. Wir müssen uns bei ihm eine Belohnung verdienen
und all' die Bösewichter und Verräther vernichten, welche den wahren Herr¬
scher beseitigen wollten, um unsern Lohn zu verzehren."

Der wüthende Pöbel fällt über Unshenzow und die Beamten des
Salzcommissariats her. welche diesem zu Hilfe geeilt sind. Unshenzow ruft
Soldaten herbei, Lasar und die von ihm aufgestachelter Proletarier springen
in ein Boot und entfliehen, ohne daß man ihrer habhaft werden kann. Das
Gerücht von diesem Auftritt verbreitet sich in der Stadt und erzeugt all¬
gemeine Aufregung und Angst. Die Autorität der Behörden ist vernichtet,
seitdem der eine Proletarier die Kunde von dem neuen Kaiser verbreitet hat.
Ein Kaufmann, der der Krone unentgeltlich Eisen geliefert hat, damit
dasselbe für die Waffen verwandt werden könne, welche man zur Vertheidi¬
gung gegen die heranrückenden Rebellen vertheilen will, wird von einer
Schaar Bauern halb todt geschlagen, ohne daß die Behörden einzuschreiten
wagen. — Einige Tage später wird ein Manu vor das saratower Stadtgericht
geführt, der schädliche Nachrichten verbreitet haben soll. Er nennt sich den
„Wanderer Nifont" und ist ein ehemaliger Kaufmann Korjakin. — Die
„Wanderer" bilden bekanntlich die gefährlichste und phantastischste aller alt¬
gläubigen Secten und gehören dem priesterlosen Typus derselben an. Ihrer
Anschauung nach ist die gesammte sittliche Weltordnung durch die russische
Kirchenreformation des 16. Jahrhunderts aufgelöst, der Teufel zeitweise in die
Herrschaft über die Welt eingesetzt worden und jede Betheiligung am Staats¬
oder Kirchenwesen reiner Teufelsdienst, dem die Frommen sich durch Flucht
und ruhelose Wanderung entziehen müssen. Selbst die Annahme eines Passes
ist schwere Sünde, denn sie wird als Anerkennung des Reichs dieser Welt
angesehen. Die Gerechten dürfen nirgend eine Heimath haben, die Flucht
vor der Welt ist ihr Beruf, das einzige Mittel zur Rettung der Seele.
Denen, die noch nicht die Kraft haben, mit dem Reich des Bösen vollständig
zu brechen, wird „um ihrer Schwachheit" willen gestattet, zeitweise einen
bürgerlichen Beruf zu treiben und festen Wohnsitz zu nehmen; aber sie müssen
heimliche Kammern Herrichten, in denen die Wanderer jeder Zeit Unter.


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[0234] ZZZ lich die Salzträger, welche auf dem Markt beschäftigt sind, umringen den ent¬ setzten Edelmann mit drohenden Mienen. Lasar ist in förmliche Raserei ge¬ rathen und schreit aus Leibeskräften: „An den Galgen mit allen Herren und Beamten." „Nehmt ihn fest, guten Leute", bittet der Edelmann. „Ergreift ihn — hängt alle Eure Peiniger, keiner von ihnen soll uns entrinnen." Ein Dutzend kräftiger Fäuste hat den- unglücklichen Unshenzow gepackt. Lasar aber ruft denselben zu: „Der große Zar Peter Feodorowitsch bringt uns Allen die Freiheit. Wir müssen uns bei ihm eine Belohnung verdienen und all' die Bösewichter und Verräther vernichten, welche den wahren Herr¬ scher beseitigen wollten, um unsern Lohn zu verzehren." Der wüthende Pöbel fällt über Unshenzow und die Beamten des Salzcommissariats her. welche diesem zu Hilfe geeilt sind. Unshenzow ruft Soldaten herbei, Lasar und die von ihm aufgestachelter Proletarier springen in ein Boot und entfliehen, ohne daß man ihrer habhaft werden kann. Das Gerücht von diesem Auftritt verbreitet sich in der Stadt und erzeugt all¬ gemeine Aufregung und Angst. Die Autorität der Behörden ist vernichtet, seitdem der eine Proletarier die Kunde von dem neuen Kaiser verbreitet hat. Ein Kaufmann, der der Krone unentgeltlich Eisen geliefert hat, damit dasselbe für die Waffen verwandt werden könne, welche man zur Vertheidi¬ gung gegen die heranrückenden Rebellen vertheilen will, wird von einer Schaar Bauern halb todt geschlagen, ohne daß die Behörden einzuschreiten wagen. — Einige Tage später wird ein Manu vor das saratower Stadtgericht geführt, der schädliche Nachrichten verbreitet haben soll. Er nennt sich den „Wanderer Nifont" und ist ein ehemaliger Kaufmann Korjakin. — Die „Wanderer" bilden bekanntlich die gefährlichste und phantastischste aller alt¬ gläubigen Secten und gehören dem priesterlosen Typus derselben an. Ihrer Anschauung nach ist die gesammte sittliche Weltordnung durch die russische Kirchenreformation des 16. Jahrhunderts aufgelöst, der Teufel zeitweise in die Herrschaft über die Welt eingesetzt worden und jede Betheiligung am Staats¬ oder Kirchenwesen reiner Teufelsdienst, dem die Frommen sich durch Flucht und ruhelose Wanderung entziehen müssen. Selbst die Annahme eines Passes ist schwere Sünde, denn sie wird als Anerkennung des Reichs dieser Welt angesehen. Die Gerechten dürfen nirgend eine Heimath haben, die Flucht vor der Welt ist ihr Beruf, das einzige Mittel zur Rettung der Seele. Denen, die noch nicht die Kraft haben, mit dem Reich des Bösen vollständig zu brechen, wird „um ihrer Schwachheit" willen gestattet, zeitweise einen bürgerlichen Beruf zu treiben und festen Wohnsitz zu nehmen; aber sie müssen heimliche Kammern Herrichten, in denen die Wanderer jeder Zeit Unter.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/234>, abgerufen am 28.09.2024.