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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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Und in der That wohnt diesem Gedanken, unbeschadet der Ausschreitungen
und Unwahrheiten, zu denen er geführt, ein gewisses Recht inne.. Bis zu
welchem Grade die Gleichgültigkeit der russischen Staatskunst des 18. Jahr¬
hunderts gegen die inneren Zustände des Reichs und das Wohl und Wehe
seiner Bewohner ausgeartet war, in wie krankhafter Weise alle Gedanken
der leitenden Staatsmänner sich auf die auswärtige Politik und die Er¬
weiterung der russischen Grenzen concentrirten -- das hat man in Rußland
selbst noch vor zehn Jahren nicht gewußt und ist erst durch die neueren
russischen Geschichtsforscher, denen die Archive in ziemlich liberaler Weise ge¬
öffnet wurden und die ihr Augenmerk zum ersten Male wieder auf die Volks¬
geschichte richteten, ans Licht gezogen worden. Gerade der Pugatschew'sche
Aufstand liefert die schlagendsten Beweise dafür, daß die Regierung selbst in
den vielgepriesenen Zeiten Katharina's II. keine Ahnung von den wirth¬
schaftlichen und geistigen Bedürfnissen des Volks hatte. Obgleich auf der Hand
lag, daß dieser Aufstand niemals die Bedeutung erlangt hätte, zu der er gewachsen,
wenn er nicht an den niederen Volksclassen mächtige Verbündete gehabt, ge¬
schah nicht das Mindeste, um die Wunden zu heilen, an denen das Volk
krankte, weder wurde die Lage des leibeigenen Bauernstandes gebessert, noch
die wahnsinnige Strenge gemildert, mit der die herrschende Kirche die alt¬
gläubigen Secten verfolgte, und gerade dadurch in den Augen des Volks
verklärte. Der Sieg der Regierung über diese Revolution, welche den Staat
in seinen Grundfesten erschüttert hatte, wurde vielmehr in blinder Thorheit
dazu ausgebeutet, das auf den Leibeigenen ruhende Joch zu Gunsten der
Gutsbesitzer zu erschweren und die argwöhnische Strenge der Gesetze über
die Sectirer zu verdoppeln.

Wie unfähig die Negierung der "aufgeklärten" Katharina gewesen, die
russischen Volksbedürfnisse und damit das Wesen des Pugatschew'schen Auf¬
standes auch nur richtig zu verstehen, geschweige denn zu behandeln, wie ver¬
kommen der gesammte russische Regierungsmechanismus jener Zeit war. das
hat neuerdings D. L. Mordawzew, der Verfasser der zu einem starken Bande
angewachsenen Abhandlung: "Die russischen Staatsmänner des vorigen Jahr¬
hunderts und Pugatschew" (I^ooicis roov^xo'iMiiiii.iiz ^Ä'rsFll iixoni^aro
n H^iMsiZi,, abgedruckt in Krayewski's OröMoio. Mimomi, 1868, Bd.
8, 9 und 10) mit entsetzlicher Klarheit und unerbittlicher Schärfe dargethan.
Mordawzew hatte sich schon früher durch verschiedene Monographien über
Pugatschew und seine Zeit, namentlich durch die Schrift: "Jwanow, ein
Obrist P.'s", vortheilhaft bekannt gemacht. Seine neueste Schrift ist dadurch
besonders interessant, daß der Versasser vorzugsweise die Archive russischer
Provinzialstädte zu Rathe gezogen und in diesen Actenstücke gefunden hat,
welche die Verkommenheit der Zustände von 1773 noch sehr viel deutlicher


28 *

Und in der That wohnt diesem Gedanken, unbeschadet der Ausschreitungen
und Unwahrheiten, zu denen er geführt, ein gewisses Recht inne.. Bis zu
welchem Grade die Gleichgültigkeit der russischen Staatskunst des 18. Jahr¬
hunderts gegen die inneren Zustände des Reichs und das Wohl und Wehe
seiner Bewohner ausgeartet war, in wie krankhafter Weise alle Gedanken
der leitenden Staatsmänner sich auf die auswärtige Politik und die Er¬
weiterung der russischen Grenzen concentrirten — das hat man in Rußland
selbst noch vor zehn Jahren nicht gewußt und ist erst durch die neueren
russischen Geschichtsforscher, denen die Archive in ziemlich liberaler Weise ge¬
öffnet wurden und die ihr Augenmerk zum ersten Male wieder auf die Volks¬
geschichte richteten, ans Licht gezogen worden. Gerade der Pugatschew'sche
Aufstand liefert die schlagendsten Beweise dafür, daß die Regierung selbst in
den vielgepriesenen Zeiten Katharina's II. keine Ahnung von den wirth¬
schaftlichen und geistigen Bedürfnissen des Volks hatte. Obgleich auf der Hand
lag, daß dieser Aufstand niemals die Bedeutung erlangt hätte, zu der er gewachsen,
wenn er nicht an den niederen Volksclassen mächtige Verbündete gehabt, ge¬
schah nicht das Mindeste, um die Wunden zu heilen, an denen das Volk
krankte, weder wurde die Lage des leibeigenen Bauernstandes gebessert, noch
die wahnsinnige Strenge gemildert, mit der die herrschende Kirche die alt¬
gläubigen Secten verfolgte, und gerade dadurch in den Augen des Volks
verklärte. Der Sieg der Regierung über diese Revolution, welche den Staat
in seinen Grundfesten erschüttert hatte, wurde vielmehr in blinder Thorheit
dazu ausgebeutet, das auf den Leibeigenen ruhende Joch zu Gunsten der
Gutsbesitzer zu erschweren und die argwöhnische Strenge der Gesetze über
die Sectirer zu verdoppeln.

Wie unfähig die Negierung der „aufgeklärten" Katharina gewesen, die
russischen Volksbedürfnisse und damit das Wesen des Pugatschew'schen Auf¬
standes auch nur richtig zu verstehen, geschweige denn zu behandeln, wie ver¬
kommen der gesammte russische Regierungsmechanismus jener Zeit war. das
hat neuerdings D. L. Mordawzew, der Verfasser der zu einem starken Bande
angewachsenen Abhandlung: „Die russischen Staatsmänner des vorigen Jahr¬
hunderts und Pugatschew" (I^ooicis roov^xo'iMiiiii.iiz ^Ä'rsFll iixoni^aro
n H^iMsiZi,, abgedruckt in Krayewski's OröMoio. Mimomi, 1868, Bd.
8, 9 und 10) mit entsetzlicher Klarheit und unerbittlicher Schärfe dargethan.
Mordawzew hatte sich schon früher durch verschiedene Monographien über
Pugatschew und seine Zeit, namentlich durch die Schrift: „Jwanow, ein
Obrist P.'s", vortheilhaft bekannt gemacht. Seine neueste Schrift ist dadurch
besonders interessant, daß der Versasser vorzugsweise die Archive russischer
Provinzialstädte zu Rathe gezogen und in diesen Actenstücke gefunden hat,
welche die Verkommenheit der Zustände von 1773 noch sehr viel deutlicher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/231>, abgerufen am 28.09.2024.