Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.vertrauen ein auch nur momentan schwächeres, unsichereres geworden? Gewiß Die zweite Periode wird vom Verfasser bezeichnet als Sonderleben vertrauen ein auch nur momentan schwächeres, unsichereres geworden? Gewiß Die zweite Periode wird vom Verfasser bezeichnet als Sonderleben <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/120374"/> <p xml:id="ID_530" prev="#ID_529"> vertrauen ein auch nur momentan schwächeres, unsichereres geworden? Gewiß<lb/> nicht: die egrtituäo sglutis war bei der Orthodoxie gerade so fest, wie bei den<lb/> Reformatoren. Aber ein anderer mehr untergeordneter Unterschied ist bei der<lb/> Verschiedenheit der Zeiten doch an beiden Erscheinungen nicht zu verkennen.<lb/> Der Protestantismus hatte in seiner ersten Periode vermöge seiner Disposition<lb/> zu Befriedigung der objectiven Bedürfnisse und Interessen des christlichen und<lb/> menschlichen Lebens den Weg zum Kirchewerden durchlaufen; er hatte seine<lb/> kirchenbildende Kraft in deren ganzem Umfang bethätigen müssen und es<lb/> fällt das Fertigwcrden mit dieser Aufgabe, bei deren Lösung die Anatheme<lb/> und Crompromisfe der katholischen Zeit wieder genau zurückkehren (Connor»<lb/> diensormel, Jacob Andrea), gerade in die Periode der Orthodoxie. Auf<lb/> diese Weise unterscheiden sich die letztere und die der Reformation bei gleicher<lb/> Naivetät nur durch die Merkmale der Consolidirung und der Ursprünglichkeit.<lb/> Im UrProtestantismus war das Bewußtsein von der Heilssicherheit primitiv,<lb/> frisch, jugendlich, demokratisch; das Gefühl dessen, was man hatte, war, weil<lb/> man den Besitz erst neu. mit einem kräftigen Ruck erworben hatte, leb¬<lb/> haft, intensiv, wie die Menschheit niemals vor- und nachher ein solches Voll-<lb/> und Kraftgefühl, als das in Luther lebende war, gehabt hat. In der Periode<lb/> der reinen Lehre aber war die kindliche Freude am Heilsbesitze nimmer da,<lb/> denn der Besitz war nicht mehr neu, war nicht selber errungen, sondern er¬<lb/> erbt; aber die Zähigkeit in seiner Festhaltung — im Guten und Schlimmen,<lb/> was Verfasser selber schlagend nachweist war dennoch da; gleich dem Alter,<lb/> gleich der Aristokratie, die sich auf ihre Rechte und Vorrechte steift, hielt<lb/> die altkirchliche Dogmatik unverrückt ihre Gnadengüter fest, freilich so gut,<lb/> als diese ihre beiden Typen, gegen die Unterhöhlung eines Besitzes, den<lb/> man nicht immer und immer neu sich befestigt, verblendet. Herr Dörner<lb/> führt die protestantische Mystik und Calixt neben dem Pietismus als die be¬<lb/> ginnende Opposition gegen die altkirchliche Orthodoxie auf, womit jedoch der<lb/> Mystik und Calixt zu viel, dem Pietismus zu wenig Gewicht in der Ent¬<lb/> wickelung der Dinge beigelegt ist. Der Pietismus ist ein Bruch mit der<lb/> Selbstgewißheit des naivreligiösen Subjects, so stark, wie nur der Deismus<lb/> und Naturalismus es sein mochten. Aber die Mystiker arbeiteten nur in<lb/> restauratorischer Weise daran, das Voll- und Kraftgefühl der Reformations¬<lb/> zeit wieder zu erneuern und aufzufrischen, und Calixt suchte sich auf dem<lb/> nüchternen, verständigen Wege Melanchthon's auch ganz gewiß für sein ob¬<lb/> jectives, wissenschaftliches Bewußtsein das Heilsgut, z. B. durch Ausbildung<lb/> des Standes der Heiligung für die Sittenlehre, zu wahren und zu befestigen.</p><lb/> <p xml:id="ID_531" next="#ID_532"> Die zweite Periode wird vom Verfasser bezeichnet als Sonderleben<lb/> der beiden evangelischen Confessionen und Wiederauflösung der Einheit<lb/> des reformatorischen Princips, vom 17ten bis zum Anfang des 19ten Jahrh.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0185]
vertrauen ein auch nur momentan schwächeres, unsichereres geworden? Gewiß
nicht: die egrtituäo sglutis war bei der Orthodoxie gerade so fest, wie bei den
Reformatoren. Aber ein anderer mehr untergeordneter Unterschied ist bei der
Verschiedenheit der Zeiten doch an beiden Erscheinungen nicht zu verkennen.
Der Protestantismus hatte in seiner ersten Periode vermöge seiner Disposition
zu Befriedigung der objectiven Bedürfnisse und Interessen des christlichen und
menschlichen Lebens den Weg zum Kirchewerden durchlaufen; er hatte seine
kirchenbildende Kraft in deren ganzem Umfang bethätigen müssen und es
fällt das Fertigwcrden mit dieser Aufgabe, bei deren Lösung die Anatheme
und Crompromisfe der katholischen Zeit wieder genau zurückkehren (Connor»
diensormel, Jacob Andrea), gerade in die Periode der Orthodoxie. Auf
diese Weise unterscheiden sich die letztere und die der Reformation bei gleicher
Naivetät nur durch die Merkmale der Consolidirung und der Ursprünglichkeit.
Im UrProtestantismus war das Bewußtsein von der Heilssicherheit primitiv,
frisch, jugendlich, demokratisch; das Gefühl dessen, was man hatte, war, weil
man den Besitz erst neu. mit einem kräftigen Ruck erworben hatte, leb¬
haft, intensiv, wie die Menschheit niemals vor- und nachher ein solches Voll-
und Kraftgefühl, als das in Luther lebende war, gehabt hat. In der Periode
der reinen Lehre aber war die kindliche Freude am Heilsbesitze nimmer da,
denn der Besitz war nicht mehr neu, war nicht selber errungen, sondern er¬
erbt; aber die Zähigkeit in seiner Festhaltung — im Guten und Schlimmen,
was Verfasser selber schlagend nachweist war dennoch da; gleich dem Alter,
gleich der Aristokratie, die sich auf ihre Rechte und Vorrechte steift, hielt
die altkirchliche Dogmatik unverrückt ihre Gnadengüter fest, freilich so gut,
als diese ihre beiden Typen, gegen die Unterhöhlung eines Besitzes, den
man nicht immer und immer neu sich befestigt, verblendet. Herr Dörner
führt die protestantische Mystik und Calixt neben dem Pietismus als die be¬
ginnende Opposition gegen die altkirchliche Orthodoxie auf, womit jedoch der
Mystik und Calixt zu viel, dem Pietismus zu wenig Gewicht in der Ent¬
wickelung der Dinge beigelegt ist. Der Pietismus ist ein Bruch mit der
Selbstgewißheit des naivreligiösen Subjects, so stark, wie nur der Deismus
und Naturalismus es sein mochten. Aber die Mystiker arbeiteten nur in
restauratorischer Weise daran, das Voll- und Kraftgefühl der Reformations¬
zeit wieder zu erneuern und aufzufrischen, und Calixt suchte sich auf dem
nüchternen, verständigen Wege Melanchthon's auch ganz gewiß für sein ob¬
jectives, wissenschaftliches Bewußtsein das Heilsgut, z. B. durch Ausbildung
des Standes der Heiligung für die Sittenlehre, zu wahren und zu befestigen.
Die zweite Periode wird vom Verfasser bezeichnet als Sonderleben
der beiden evangelischen Confessionen und Wiederauflösung der Einheit
des reformatorischen Princips, vom 17ten bis zum Anfang des 19ten Jahrh.
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