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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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"Ihr habt einen andern Geist als wir" ausgesprochen und den die neueren
Forschungen überzeugend ans Licht gestellt haben, herauslesen? Ueberall sind
diesen beiden Typen wie geflissentlich ihre Spitzen gegen einander abgebrochen,
sodaß man fast auf den Verdacht kommt, daß auf diese Darstellung ein apo- -
logetisches Interesse, nämlich das für die preußische Union als eine Einigung
auch des dogmatischen Besitzstandes, eingewirkt habe. Ein ähnlicher Zweck
scheint auch bei der Zurückverweisung des Anabaptismus (in dem sich doch
offenbar das Reformationsprincip der Heilsgewißheit in einseitiger Er¬
greifung des praktischen Menschen ausgetobt hat) in die Kreise des Ro¬
manismus obgewaltet zu haben. Wer gewinnt, ungeachtet der fleißigen
Ausführung über Luther's successive Lehrausstellungen, einen Einblick in und
einen Ueberblick über das rege Leben der Reformationszeit, wenn auf Luther
kein Sichselbstwidersprechen, dieses Anzeichen gerade für die Stichhaltigkeit
der Gesichtspunkte eines großen Geistes, kommen darf? Wie ist ein be¬
friedigendes Gesammtbild dieses Theologen und Menschheitsbildners möglich,
da die Spaltung der reformatorischen Anschauungsweise in Lutherthum und
Philippismus nicht herausgestellt wird und der letztere gerade nach seinem
nächstliegenden Erzeugnisse, der herrlichen augsburgischen Apologie, nicht charak-
terisirt wird? Welcher Sachkundige vermißt nicht in der Schilderung des eng¬
lischen Deismus die Hervorhebung der Hauptpunkte, in denen er sich als die
Opposition der natürlichen Religion gegen die Offenbarungsreligion offenbarte,
in der Zeichnung des Rationalismus vor Kant, die positiven Züge desselben,
seine Philanthropie, die aufkeimende Humanität und Verherrlichung der Güte und
Vortrefflichkeit der menschlichen Natur, seinen Natursinn und seine ästhetische An¬
lage; endlich bei Kant die Betonung jener Lehre, mit der er die Herzen sogar
vieler Gläubigen seiner Zeit gewann, der Lehre vom radicalen Bösen in
der Menschennatur? Doch selbst gegen solche Alterirungen des Thatbestands,
ungenaue oder nicht zutreffende Bilder wiegen für einen Historiker noch
schwerer großartige Lücken, wie Dörner sie sich hat zu Schulden kommen lassen.
Eine derartige Lücke wollen wir, wie bemerkt, dem Verfasser nicht ausrechnen,
wenn er die Geschichte der theologischen Sittenlehre nicht verfolgt hat, wie¬
wohl sie als Theil der Theologie und zumal bei der Ausdehnung, die er
seinem Plane gegeben hat. hergehört hätte; man ist ja, besonders auch von
der speculativen Schule, nicht daran gewöhnt worden nach der Geschichte
dieser Disciplin zu fragen. Aber durch die Natur der Sache und durch sein
Dringen auf das formale Princip des Protestantismus wäre er aufgefordert
gewesen, uns den ganzen Schicksalsgang der Bibel innerhalb der geschicht¬
lichen Entwickelung vorzuführen. In dieser Beziehung aber hat er nur die
Außenseiten der Behandlung, welche die Bibel durch die Fortentwickelung


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„Ihr habt einen andern Geist als wir" ausgesprochen und den die neueren
Forschungen überzeugend ans Licht gestellt haben, herauslesen? Ueberall sind
diesen beiden Typen wie geflissentlich ihre Spitzen gegen einander abgebrochen,
sodaß man fast auf den Verdacht kommt, daß auf diese Darstellung ein apo- -
logetisches Interesse, nämlich das für die preußische Union als eine Einigung
auch des dogmatischen Besitzstandes, eingewirkt habe. Ein ähnlicher Zweck
scheint auch bei der Zurückverweisung des Anabaptismus (in dem sich doch
offenbar das Reformationsprincip der Heilsgewißheit in einseitiger Er¬
greifung des praktischen Menschen ausgetobt hat) in die Kreise des Ro¬
manismus obgewaltet zu haben. Wer gewinnt, ungeachtet der fleißigen
Ausführung über Luther's successive Lehrausstellungen, einen Einblick in und
einen Ueberblick über das rege Leben der Reformationszeit, wenn auf Luther
kein Sichselbstwidersprechen, dieses Anzeichen gerade für die Stichhaltigkeit
der Gesichtspunkte eines großen Geistes, kommen darf? Wie ist ein be¬
friedigendes Gesammtbild dieses Theologen und Menschheitsbildners möglich,
da die Spaltung der reformatorischen Anschauungsweise in Lutherthum und
Philippismus nicht herausgestellt wird und der letztere gerade nach seinem
nächstliegenden Erzeugnisse, der herrlichen augsburgischen Apologie, nicht charak-
terisirt wird? Welcher Sachkundige vermißt nicht in der Schilderung des eng¬
lischen Deismus die Hervorhebung der Hauptpunkte, in denen er sich als die
Opposition der natürlichen Religion gegen die Offenbarungsreligion offenbarte,
in der Zeichnung des Rationalismus vor Kant, die positiven Züge desselben,
seine Philanthropie, die aufkeimende Humanität und Verherrlichung der Güte und
Vortrefflichkeit der menschlichen Natur, seinen Natursinn und seine ästhetische An¬
lage; endlich bei Kant die Betonung jener Lehre, mit der er die Herzen sogar
vieler Gläubigen seiner Zeit gewann, der Lehre vom radicalen Bösen in
der Menschennatur? Doch selbst gegen solche Alterirungen des Thatbestands,
ungenaue oder nicht zutreffende Bilder wiegen für einen Historiker noch
schwerer großartige Lücken, wie Dörner sie sich hat zu Schulden kommen lassen.
Eine derartige Lücke wollen wir, wie bemerkt, dem Verfasser nicht ausrechnen,
wenn er die Geschichte der theologischen Sittenlehre nicht verfolgt hat, wie¬
wohl sie als Theil der Theologie und zumal bei der Ausdehnung, die er
seinem Plane gegeben hat. hergehört hätte; man ist ja, besonders auch von
der speculativen Schule, nicht daran gewöhnt worden nach der Geschichte
dieser Disciplin zu fragen. Aber durch die Natur der Sache und durch sein
Dringen auf das formale Princip des Protestantismus wäre er aufgefordert
gewesen, uns den ganzen Schicksalsgang der Bibel innerhalb der geschicht¬
lichen Entwickelung vorzuführen. In dieser Beziehung aber hat er nur die
Außenseiten der Behandlung, welche die Bibel durch die Fortentwickelung


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[0183] „Ihr habt einen andern Geist als wir" ausgesprochen und den die neueren Forschungen überzeugend ans Licht gestellt haben, herauslesen? Ueberall sind diesen beiden Typen wie geflissentlich ihre Spitzen gegen einander abgebrochen, sodaß man fast auf den Verdacht kommt, daß auf diese Darstellung ein apo- - logetisches Interesse, nämlich das für die preußische Union als eine Einigung auch des dogmatischen Besitzstandes, eingewirkt habe. Ein ähnlicher Zweck scheint auch bei der Zurückverweisung des Anabaptismus (in dem sich doch offenbar das Reformationsprincip der Heilsgewißheit in einseitiger Er¬ greifung des praktischen Menschen ausgetobt hat) in die Kreise des Ro¬ manismus obgewaltet zu haben. Wer gewinnt, ungeachtet der fleißigen Ausführung über Luther's successive Lehrausstellungen, einen Einblick in und einen Ueberblick über das rege Leben der Reformationszeit, wenn auf Luther kein Sichselbstwidersprechen, dieses Anzeichen gerade für die Stichhaltigkeit der Gesichtspunkte eines großen Geistes, kommen darf? Wie ist ein be¬ friedigendes Gesammtbild dieses Theologen und Menschheitsbildners möglich, da die Spaltung der reformatorischen Anschauungsweise in Lutherthum und Philippismus nicht herausgestellt wird und der letztere gerade nach seinem nächstliegenden Erzeugnisse, der herrlichen augsburgischen Apologie, nicht charak- terisirt wird? Welcher Sachkundige vermißt nicht in der Schilderung des eng¬ lischen Deismus die Hervorhebung der Hauptpunkte, in denen er sich als die Opposition der natürlichen Religion gegen die Offenbarungsreligion offenbarte, in der Zeichnung des Rationalismus vor Kant, die positiven Züge desselben, seine Philanthropie, die aufkeimende Humanität und Verherrlichung der Güte und Vortrefflichkeit der menschlichen Natur, seinen Natursinn und seine ästhetische An¬ lage; endlich bei Kant die Betonung jener Lehre, mit der er die Herzen sogar vieler Gläubigen seiner Zeit gewann, der Lehre vom radicalen Bösen in der Menschennatur? Doch selbst gegen solche Alterirungen des Thatbestands, ungenaue oder nicht zutreffende Bilder wiegen für einen Historiker noch schwerer großartige Lücken, wie Dörner sie sich hat zu Schulden kommen lassen. Eine derartige Lücke wollen wir, wie bemerkt, dem Verfasser nicht ausrechnen, wenn er die Geschichte der theologischen Sittenlehre nicht verfolgt hat, wie¬ wohl sie als Theil der Theologie und zumal bei der Ausdehnung, die er seinem Plane gegeben hat. hergehört hätte; man ist ja, besonders auch von der speculativen Schule, nicht daran gewöhnt worden nach der Geschichte dieser Disciplin zu fragen. Aber durch die Natur der Sache und durch sein Dringen auf das formale Princip des Protestantismus wäre er aufgefordert gewesen, uns den ganzen Schicksalsgang der Bibel innerhalb der geschicht¬ lichen Entwickelung vorzuführen. In dieser Beziehung aber hat er nur die Außenseiten der Behandlung, welche die Bibel durch die Fortentwickelung 22*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/183>, abgerufen am 28.09.2024.