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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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in der Theologie zu erringen wußten, viel zuwenig gesagt, wenn die letztere
blos im Zusammenhange mit dem intellectuellen Leben, dessen Ausdruck, Re¬
präsentation, Mittelpunkt, höchster Extract sie doch in ihren namhafterer Er.
scheinungen ist dargestellt, werden will. Man sieht: Herr Dörner fühlte mit Recht
das Bedürfniß, de" ihm von der bairischen Akademie dictirten Titel seines
Werks von der Einsicht aus, daß der Protestantismus keine blos lehrwissen¬
schaftliche, sondern eine allgemeinere Entwickelung hat, durch Hinzufügung
näherer Bestimmungen seiner Anschauungsweise von der Sache, näher zu
rücken. Wir müssen aber doch in seiner Auffassung noch zu viel Formalis¬
mus sehen und würden einzig den Titel "Geschichte des Protestantismus" zu
rechtfertigen wissen.

Doch darauf geht eben unsere Hauptanklage gegen das vorliegende ge¬
lehrte Werk, daß wir in ihm die organische Betrachtung der Dinge, das
pulsirende Leben des in der Religion und Theologie thätigen Geistes, die
concrete, anschauliche Nachbildung unendlich lebensvoller und lebenswarmer
Menschheitsproducte vermissen. Schiefe Darstellungen wie die von Shaftes-
bury und Lessing, Aufnahme von Nichtzugehörigem wie Hobbes' Rechts-und
Staatsdeduction, Bücheranzeigen statt Schilderung des Charakters der betreffen¬
den Perioden, loses Aneinanderreihen von Personen oder Lehrgegenständen
statt organischer Verknüpfung, Auszüge aus Schriften statt Portraitzeichnungen,
mangelnde Instruktion, Orientirung und Wegweisung für den Leser sind fühl¬
bare Mängel des Buchs. Es soll darum nicht verkannt werden, daß dem
Verfasser der historische Sinn gegeben ist. Wo derselbe unbeschränkt walten
kann, wo der Geschichtschreiber seinem Gegenstand objectiv gegenüber steht,
leistet er Treffliches. Nicht leicht ist bis dahin das Zeitalter der lutherischen
Orthodoxie so nach allen Seiten erschöpfend, so klar und lichtvoll dargestellt
worden, wie hier, und eine so gründliche, durchaus unbefangene Beleuchtung
des Pietismus, als in diesem Werke, dürfte sich nirgend sonstwo finden.
Auch die Schilderung des Supernaturalismus läßt Wenig zu wünschen
übrig. Aber die Vermittelungstheologie, auf deren rechter Seite der Herr
Verfasser nach seiner dogmatischen und kirchlichen Richtung steht, erlaubt ihm
theils keine völlig getreue und vollständige Auffassung der Geschichte,
theils keine Einsicht in deren Organismus. Es sind die Maßstäbe des
materialen und formalen Princips, die zur Einrahmung der einzelnen Er-
scheinungen in ein zum Voraus festgestelltes Schema herzugebracht werden;
es ist eine Seltenheit, wenn dem phänomenologischen Proceß des Bewußt¬
seins, aus dem doch allein die wechjelvolle Bewegung des Dogmas zu er¬
klären ist, ein Plätzchen eingeräumt wird. Wer wird z. B. aus der Dorner-
schen Darstellung des Verhältnisses zwischen dem lutherischen und reformirten
System den Sachverhalt, den schon Luther mit der Erklärung an Zwingli:


in der Theologie zu erringen wußten, viel zuwenig gesagt, wenn die letztere
blos im Zusammenhange mit dem intellectuellen Leben, dessen Ausdruck, Re¬
präsentation, Mittelpunkt, höchster Extract sie doch in ihren namhafterer Er.
scheinungen ist dargestellt, werden will. Man sieht: Herr Dörner fühlte mit Recht
das Bedürfniß, de« ihm von der bairischen Akademie dictirten Titel seines
Werks von der Einsicht aus, daß der Protestantismus keine blos lehrwissen¬
schaftliche, sondern eine allgemeinere Entwickelung hat, durch Hinzufügung
näherer Bestimmungen seiner Anschauungsweise von der Sache, näher zu
rücken. Wir müssen aber doch in seiner Auffassung noch zu viel Formalis¬
mus sehen und würden einzig den Titel „Geschichte des Protestantismus" zu
rechtfertigen wissen.

Doch darauf geht eben unsere Hauptanklage gegen das vorliegende ge¬
lehrte Werk, daß wir in ihm die organische Betrachtung der Dinge, das
pulsirende Leben des in der Religion und Theologie thätigen Geistes, die
concrete, anschauliche Nachbildung unendlich lebensvoller und lebenswarmer
Menschheitsproducte vermissen. Schiefe Darstellungen wie die von Shaftes-
bury und Lessing, Aufnahme von Nichtzugehörigem wie Hobbes' Rechts-und
Staatsdeduction, Bücheranzeigen statt Schilderung des Charakters der betreffen¬
den Perioden, loses Aneinanderreihen von Personen oder Lehrgegenständen
statt organischer Verknüpfung, Auszüge aus Schriften statt Portraitzeichnungen,
mangelnde Instruktion, Orientirung und Wegweisung für den Leser sind fühl¬
bare Mängel des Buchs. Es soll darum nicht verkannt werden, daß dem
Verfasser der historische Sinn gegeben ist. Wo derselbe unbeschränkt walten
kann, wo der Geschichtschreiber seinem Gegenstand objectiv gegenüber steht,
leistet er Treffliches. Nicht leicht ist bis dahin das Zeitalter der lutherischen
Orthodoxie so nach allen Seiten erschöpfend, so klar und lichtvoll dargestellt
worden, wie hier, und eine so gründliche, durchaus unbefangene Beleuchtung
des Pietismus, als in diesem Werke, dürfte sich nirgend sonstwo finden.
Auch die Schilderung des Supernaturalismus läßt Wenig zu wünschen
übrig. Aber die Vermittelungstheologie, auf deren rechter Seite der Herr
Verfasser nach seiner dogmatischen und kirchlichen Richtung steht, erlaubt ihm
theils keine völlig getreue und vollständige Auffassung der Geschichte,
theils keine Einsicht in deren Organismus. Es sind die Maßstäbe des
materialen und formalen Princips, die zur Einrahmung der einzelnen Er-
scheinungen in ein zum Voraus festgestelltes Schema herzugebracht werden;
es ist eine Seltenheit, wenn dem phänomenologischen Proceß des Bewußt¬
seins, aus dem doch allein die wechjelvolle Bewegung des Dogmas zu er¬
klären ist, ein Plätzchen eingeräumt wird. Wer wird z. B. aus der Dorner-
schen Darstellung des Verhältnisses zwischen dem lutherischen und reformirten
System den Sachverhalt, den schon Luther mit der Erklärung an Zwingli:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/182>, abgerufen am 28.09.2024.