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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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ein beliebtes Steckenpferd der Opposition, zum Theil mit Recht, zum Theil
mit Unrecht. Freilich hat es die kurhessische Regierung häufig daran fehlen
lassen tüchtige Kräfte, der Universität die durch auswärtige Berufungen ent¬
zogen wurden, zu erhalten; allein dabei darf auch nicht übersehen werden,
daß die eng begrenzten Verhältnisse einer Anstalt, welche ihrem ganzen Zu¬
schnitte nach nur eine für die Angehörigen eines kleinen Territoriums be¬
stimmte Landesuniversität war, wenig Fesselndes sür strebende Gelehrte haben
konnte, denen anderswo ein größerer Wirkungskreis geboten wurde. In
dieser Beziehung hat die kurze Zeit der preußischen Herrschaft den auf Mar¬
burg lastenden Bann gelöst: neue sehr beträchtliche Lehrkräfte sind während der¬
selben für sie gewonnen worden, die Zahl der Studenten hat sich um ein
sehr Beträchtliches vermehrt. Geradezu lächerlich aber ist es, wenn Marburg,
weil es der Wohnort Vilmar's war, als der Heerd der kirchlichen und po¬
litischen Reaction dargestellt wird. Unter den deutschen theologischen Facul-
täten gibt es vielleicht wenige, in denen eine mild vermittelnde Richtung
so vorherrschend ist wie in der marburger, und was die politische Stellung
der Universität betrifft, so braucht man blos an die Thatsache zu erinnern,
daß dieselbe Pauli zu ihrem Vertreter im Herrenhause gewählt hat, -- und
dann einen vergleichenden Blick auf Göttingen zu werfen.

Wir wissen. daß wir eine Saite anschlagen, die nicht bet Allen Anklang
findet, wenn wir auf die Geschichte Marburgs und insbesondere darauf
aufmerksam machen, daß es die älteste protestantische Universität ist; aber
wir wollen deshalb unsere Meinung nicht verschweigen. Nur eine rasch¬
lebige und auf den Augenblick gestellte Zeit kann vergessen, daß Geist und
Charakter einer Hochschule nicht blos durch die Personen bedingt sind, welche
sie augenblicklich zusammensetzen, sondern zum großen Theile auch durch ihre
Vergangenheit. Insbesondere in ungünstigen Perioden, wie sie jede Anstalt
einmal durchmachen.kann,, erhält der Gedanke an sie Muth und Spannkraft
ihrer Mitglieder; aber auch in günstigeren steht deren Thun und Lassen mehr
unter dem Einflüsse der Tradition als sie sich selbst oft eingestehen. Verfolgt
man nun die marburger Universität durch die Jahrhunderte ihres Bestehens,
betrachtet man sie, wie sie im siebenzehnten Jahrhundert nach theilweiser Zer-
störung unter dem Landgrafen Wilhelm IV. gleichsam aus der Asche wieder
auflebte, bedenkt man,, wie sie auch in unserem Jahrhundert wiederholt kritische
Perioden siegreich überstanden hat, so wird man unwillkürlich zu der An¬
nahme geleitet, daß ihr eine gewisse Lebenskraft inne wohnt. Insbesondere
aber enthält die sehr große Zahl bedeutender akademischer Lehrer von Sa-
vigny und Vangerow bis auf Zeller und v. Sybel, welche von ihr aus¬
gegangen ist, ein unverwerfliches Zeugniß für ihre Lebenskraft: nur nebenbei


Grenzboten I. 1369. 13

ein beliebtes Steckenpferd der Opposition, zum Theil mit Recht, zum Theil
mit Unrecht. Freilich hat es die kurhessische Regierung häufig daran fehlen
lassen tüchtige Kräfte, der Universität die durch auswärtige Berufungen ent¬
zogen wurden, zu erhalten; allein dabei darf auch nicht übersehen werden,
daß die eng begrenzten Verhältnisse einer Anstalt, welche ihrem ganzen Zu¬
schnitte nach nur eine für die Angehörigen eines kleinen Territoriums be¬
stimmte Landesuniversität war, wenig Fesselndes sür strebende Gelehrte haben
konnte, denen anderswo ein größerer Wirkungskreis geboten wurde. In
dieser Beziehung hat die kurze Zeit der preußischen Herrschaft den auf Mar¬
burg lastenden Bann gelöst: neue sehr beträchtliche Lehrkräfte sind während der¬
selben für sie gewonnen worden, die Zahl der Studenten hat sich um ein
sehr Beträchtliches vermehrt. Geradezu lächerlich aber ist es, wenn Marburg,
weil es der Wohnort Vilmar's war, als der Heerd der kirchlichen und po¬
litischen Reaction dargestellt wird. Unter den deutschen theologischen Facul-
täten gibt es vielleicht wenige, in denen eine mild vermittelnde Richtung
so vorherrschend ist wie in der marburger, und was die politische Stellung
der Universität betrifft, so braucht man blos an die Thatsache zu erinnern,
daß dieselbe Pauli zu ihrem Vertreter im Herrenhause gewählt hat, — und
dann einen vergleichenden Blick auf Göttingen zu werfen.

Wir wissen. daß wir eine Saite anschlagen, die nicht bet Allen Anklang
findet, wenn wir auf die Geschichte Marburgs und insbesondere darauf
aufmerksam machen, daß es die älteste protestantische Universität ist; aber
wir wollen deshalb unsere Meinung nicht verschweigen. Nur eine rasch¬
lebige und auf den Augenblick gestellte Zeit kann vergessen, daß Geist und
Charakter einer Hochschule nicht blos durch die Personen bedingt sind, welche
sie augenblicklich zusammensetzen, sondern zum großen Theile auch durch ihre
Vergangenheit. Insbesondere in ungünstigen Perioden, wie sie jede Anstalt
einmal durchmachen.kann,, erhält der Gedanke an sie Muth und Spannkraft
ihrer Mitglieder; aber auch in günstigeren steht deren Thun und Lassen mehr
unter dem Einflüsse der Tradition als sie sich selbst oft eingestehen. Verfolgt
man nun die marburger Universität durch die Jahrhunderte ihres Bestehens,
betrachtet man sie, wie sie im siebenzehnten Jahrhundert nach theilweiser Zer-
störung unter dem Landgrafen Wilhelm IV. gleichsam aus der Asche wieder
auflebte, bedenkt man,, wie sie auch in unserem Jahrhundert wiederholt kritische
Perioden siegreich überstanden hat, so wird man unwillkürlich zu der An¬
nahme geleitet, daß ihr eine gewisse Lebenskraft inne wohnt. Insbesondere
aber enthält die sehr große Zahl bedeutender akademischer Lehrer von Sa-
vigny und Vangerow bis auf Zeller und v. Sybel, welche von ihr aus¬
gegangen ist, ein unverwerfliches Zeugniß für ihre Lebenskraft: nur nebenbei


Grenzboten I. 1369. 13
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/108>, abgerufen am 28.09.2024.