und versplittert entgegentraten, zu einem Ganzen vereinigt, das ihn durch die harmonische Durchdringung geistiger und technischer Vollendung befriedi¬ gen konnte; er mußte aus den Trümmern der realen Erscheinungen die Idee des griechischen Kunstwerks in seinem Geist wiederherstellen. Da er unbeirrt durch antiquarische Vorurtheile und Liebhabereien seine Prüfung anstellte, sprach er unbedenklich das Resultat derselben, so parodox es auch erschien, dahin aus, daß unter der Masse antiker Kunstwerke gar kein Original eines großen Meisters sich befinde. Auch unter den Statuen der hoch gepriesenen Gruppe der Niobe sei kein Original, behauptete er, und das galt für eine der gewagtesten Heterodoxien auf diesem Gebiet.
Von ihm angeregt und gefördert hat Winckelmann, der mit einer an bestimmt umgrenzten historischen Aufgaben geübten geschichtlichen Auf¬ fassung und mit einem durch das Studium der griechischen Dichter ausgebil¬ deten Gefühl für die Entwickelungsstufen der griechischen Kunst die Bild¬ werke der römischen Museen betrachtete, von diesen die allgemeinen Merkmale ableiten können, welche den allmählich fortschreitenden Gang der bildenden Kunst bei den Griechen in ihren charakteristischen Momenten bezeichnen. Be¬ wundern wir hier die Divinationskraft, welche aus so verkümmerter Ueber¬ lieferung das Urbild in seinen wesentlichen Grundzügen wieder zur An¬ schauung brachte, und den Scharfblick, welcher so vieles Einzelne treffend würdigte und an seinen Platz stellte, so wurde doch nun das Mißverhältniß der erhaltenen Kunstwerke zu der geringen Anzahl der kenntlich bezeichneten Monumente der Kunstgeschichte erst recht auffallend. In Winckelmanns herr¬ lichem Tempel der Kunst stand die lange Reihe der Piedestale mit den Na¬ men der größten Künstler geschmückt, aber die Götterbilder auf denselben fehlten. Und doch hatte er minder rigoristisch als sein künstlerischer Freund, noch manchem Kunstwerk höheren Werth beigelegt, als ihm zukam.
Die Situation der kunstgeschichtlichen Forschung ist im neunzehnten Jahrhundert durch die lange Reihe wichtiger Entdeckungen auf griechischem Boden eine wesentlich andere geworden. Die Sculpturen der Tempel von Selinunt, Aegina, Olympia, vom Theseum, Parthenon, Nike- tempel, Erechtheum in Athen, vom Apollotempel in Phigalia, vom Maussolleum in Halikarnaß, deren Entstehungszeit genau oder annähernd feststeht, deren Ursprung aus den Ateliers der größten Künstler unbezweifelt ist, stellten feste Marksteine für die kunstgeschichtliche Entwicke¬ lung hin, sie boten die längst ersehnte Anschauung echr griechischer Kunst¬ werke, von ihnen aus war eine Vergleichung und Würdigung der herren- und zeitlosen Masse nach ihrem Werth sür die Kunstgeschichte nun erst mög¬ lich geworden. Eine nicht geringe Anzahl einzelner Kunstwerke, schon durch den griechischen Fundort beglaubigt und meist durch die Umgebung bestimm-
und versplittert entgegentraten, zu einem Ganzen vereinigt, das ihn durch die harmonische Durchdringung geistiger und technischer Vollendung befriedi¬ gen konnte; er mußte aus den Trümmern der realen Erscheinungen die Idee des griechischen Kunstwerks in seinem Geist wiederherstellen. Da er unbeirrt durch antiquarische Vorurtheile und Liebhabereien seine Prüfung anstellte, sprach er unbedenklich das Resultat derselben, so parodox es auch erschien, dahin aus, daß unter der Masse antiker Kunstwerke gar kein Original eines großen Meisters sich befinde. Auch unter den Statuen der hoch gepriesenen Gruppe der Niobe sei kein Original, behauptete er, und das galt für eine der gewagtesten Heterodoxien auf diesem Gebiet.
Von ihm angeregt und gefördert hat Winckelmann, der mit einer an bestimmt umgrenzten historischen Aufgaben geübten geschichtlichen Auf¬ fassung und mit einem durch das Studium der griechischen Dichter ausgebil¬ deten Gefühl für die Entwickelungsstufen der griechischen Kunst die Bild¬ werke der römischen Museen betrachtete, von diesen die allgemeinen Merkmale ableiten können, welche den allmählich fortschreitenden Gang der bildenden Kunst bei den Griechen in ihren charakteristischen Momenten bezeichnen. Be¬ wundern wir hier die Divinationskraft, welche aus so verkümmerter Ueber¬ lieferung das Urbild in seinen wesentlichen Grundzügen wieder zur An¬ schauung brachte, und den Scharfblick, welcher so vieles Einzelne treffend würdigte und an seinen Platz stellte, so wurde doch nun das Mißverhältniß der erhaltenen Kunstwerke zu der geringen Anzahl der kenntlich bezeichneten Monumente der Kunstgeschichte erst recht auffallend. In Winckelmanns herr¬ lichem Tempel der Kunst stand die lange Reihe der Piedestale mit den Na¬ men der größten Künstler geschmückt, aber die Götterbilder auf denselben fehlten. Und doch hatte er minder rigoristisch als sein künstlerischer Freund, noch manchem Kunstwerk höheren Werth beigelegt, als ihm zukam.
Die Situation der kunstgeschichtlichen Forschung ist im neunzehnten Jahrhundert durch die lange Reihe wichtiger Entdeckungen auf griechischem Boden eine wesentlich andere geworden. Die Sculpturen der Tempel von Selinunt, Aegina, Olympia, vom Theseum, Parthenon, Nike- tempel, Erechtheum in Athen, vom Apollotempel in Phigalia, vom Maussolleum in Halikarnaß, deren Entstehungszeit genau oder annähernd feststeht, deren Ursprung aus den Ateliers der größten Künstler unbezweifelt ist, stellten feste Marksteine für die kunstgeschichtliche Entwicke¬ lung hin, sie boten die längst ersehnte Anschauung echr griechischer Kunst¬ werke, von ihnen aus war eine Vergleichung und Würdigung der herren- und zeitlosen Masse nach ihrem Werth sür die Kunstgeschichte nun erst mög¬ lich geworden. Eine nicht geringe Anzahl einzelner Kunstwerke, schon durch den griechischen Fundort beglaubigt und meist durch die Umgebung bestimm-
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und versplittert entgegentraten, zu einem Ganzen vereinigt, das ihn durch
die harmonische Durchdringung geistiger und technischer Vollendung befriedi¬
gen konnte; er mußte aus den Trümmern der realen Erscheinungen die Idee
des griechischen Kunstwerks in seinem Geist wiederherstellen. Da er unbeirrt
durch antiquarische Vorurtheile und Liebhabereien seine Prüfung anstellte,
sprach er unbedenklich das Resultat derselben, so parodox es auch erschien,
dahin aus, daß unter der Masse antiker Kunstwerke gar kein Original eines
großen Meisters sich befinde. Auch unter den Statuen der hoch gepriesenen
Gruppe der Niobe sei kein Original, behauptete er, und das galt für eine
der gewagtesten Heterodoxien auf diesem Gebiet.
Von ihm angeregt und gefördert hat Winckelmann, der mit einer
an bestimmt umgrenzten historischen Aufgaben geübten geschichtlichen Auf¬
fassung und mit einem durch das Studium der griechischen Dichter ausgebil¬
deten Gefühl für die Entwickelungsstufen der griechischen Kunst die Bild¬
werke der römischen Museen betrachtete, von diesen die allgemeinen Merkmale
ableiten können, welche den allmählich fortschreitenden Gang der bildenden
Kunst bei den Griechen in ihren charakteristischen Momenten bezeichnen. Be¬
wundern wir hier die Divinationskraft, welche aus so verkümmerter Ueber¬
lieferung das Urbild in seinen wesentlichen Grundzügen wieder zur An¬
schauung brachte, und den Scharfblick, welcher so vieles Einzelne treffend
würdigte und an seinen Platz stellte, so wurde doch nun das Mißverhältniß
der erhaltenen Kunstwerke zu der geringen Anzahl der kenntlich bezeichneten
Monumente der Kunstgeschichte erst recht auffallend. In Winckelmanns herr¬
lichem Tempel der Kunst stand die lange Reihe der Piedestale mit den Na¬
men der größten Künstler geschmückt, aber die Götterbilder auf denselben
fehlten. Und doch hatte er minder rigoristisch als sein künstlerischer Freund,
noch manchem Kunstwerk höheren Werth beigelegt, als ihm zukam.
Die Situation der kunstgeschichtlichen Forschung ist im neunzehnten
Jahrhundert durch die lange Reihe wichtiger Entdeckungen auf griechischem
Boden eine wesentlich andere geworden. Die Sculpturen der Tempel von
Selinunt, Aegina, Olympia, vom Theseum, Parthenon, Nike-
tempel, Erechtheum in Athen, vom Apollotempel in Phigalia,
vom Maussolleum in Halikarnaß, deren Entstehungszeit genau oder
annähernd feststeht, deren Ursprung aus den Ateliers der größten Künstler
unbezweifelt ist, stellten feste Marksteine für die kunstgeschichtliche Entwicke¬
lung hin, sie boten die längst ersehnte Anschauung echr griechischer Kunst¬
werke, von ihnen aus war eine Vergleichung und Würdigung der herren-
und zeitlosen Masse nach ihrem Werth sür die Kunstgeschichte nun erst mög¬
lich geworden. Eine nicht geringe Anzahl einzelner Kunstwerke, schon durch
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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/88>, abgerufen am 24.01.2025.
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