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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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steiler gewonnen wurde. Auffallende Beispiele schienen dies Verfahren zu
rechtfertigen. Die Gruppe des Laokoon für dieselbe zu halten, welche Pli-
nius im Atrium des Kaisers Titus sah und welche die Kenner seiner Zeit
allen Werken der Plastik vorzogen, schien unabweisbar. Auch der Umstand
fiel nicht ins Gewicht, daß die von Plinius mit der Anschauung eines Frem¬
denführers hervorgehobene Merkwürdigkeit, daß das Ganze aus einem Stein
gearbeitet sei, bei genauer Besichtigung nicht zutraf. Bei einer zweiten Gruppe
von mächtiger Wirkung, bei dem sogenannten farnesischen Stier, wo
die Uebereinstimmung mit der von Plinius gepriesenen, aus Rhodus nach
Rom gebrachten Gruppe der an den Stier gefesselten Diree unwidersprech-
lich war, machte die theilweise Verstümmelung die Nachprüfung, wie es mit
dem Strick beschaffen sei, den Plinius wieder als HauptcurioMt bezeichnet,
glücklicherweise gar nicht thunlich. Sollte man angesichts so schlagender Bei¬
spiele an der unmittelbaren Ableitung des Jupiters von Otricoli von
Phidias, der ludovisischen Juno von Polyklet, der mediceischen
Venus von Praxiteles Zweifel hegen? Die enthusiastische Verehrung der
Kunstwerke, die leichtfertige Behandlung der Schriftsteller, vor allem der Um¬
stand, daß die große Masse der aus römischem, überhaupt italischen Boden
hervorgegangenen Kunstwerke ihren Ursprung der Kaiserzeit verdankt und
einen durchgehenden gemeinsamen Charakter zeigt, daß es an Werken
früherer Zeiten, echt griechischen Ursprungs und damit an Anhaltspunkten
zu einer Begleichung, welche den Maßstab einer zu historischen Resultaten
führenden Würdigung bieten konnte, fast gänzlich fehlte, wirkten zusammen,
um Liebhaber und Antiquare ein Original nach dem andern entdecken zu
lassen. --

Allein schon eine gründlich prüfende künstlerische Betrachtung war ge¬
eignet, diese Illusionen zu zerstören. Ras. Mengs, mehr zum Aesthetiker
als zum Künstler geschaffen, unterwarf die Antiken Roms -- denn damals
war ja fast noch alles, was man Herrliches und Schönes besaß, in Rom
vereinigt -- einer scharfen, ins Einzelne dringenden Prüfung, zu welcher er
die Bildung eines denkenden und kenntnißreichen Mannes und die Erfah¬
rung eines die Technik mit Meisterschaft beherrschenden Künstlers mitbrachte.
Mit einer aus den Nachrichten der Alten gewonnenen hohen Vorstellung von
der idealen Größe und Schönheit der geistigen und technischen Leistungen der
griechischen Meister trat er an die Werke heran, die von ihnen erhalten sein
sollten; überall fand er in der Erfindung der Motive, in der Auffassung
und Darstellung der Formen, in der Composition, Spuren und Andeutungen
jener Vollendung, welche er als den Charakter der griechischen Kunst ansah,
aber überall durch Fehler und Ungeschicklichkeiten, oft unglaublicher Art, ent¬
stellt und verzerrt. Nirgends sah er die Elemente, die ihm einzeln, zerstreut


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steiler gewonnen wurde. Auffallende Beispiele schienen dies Verfahren zu
rechtfertigen. Die Gruppe des Laokoon für dieselbe zu halten, welche Pli-
nius im Atrium des Kaisers Titus sah und welche die Kenner seiner Zeit
allen Werken der Plastik vorzogen, schien unabweisbar. Auch der Umstand
fiel nicht ins Gewicht, daß die von Plinius mit der Anschauung eines Frem¬
denführers hervorgehobene Merkwürdigkeit, daß das Ganze aus einem Stein
gearbeitet sei, bei genauer Besichtigung nicht zutraf. Bei einer zweiten Gruppe
von mächtiger Wirkung, bei dem sogenannten farnesischen Stier, wo
die Uebereinstimmung mit der von Plinius gepriesenen, aus Rhodus nach
Rom gebrachten Gruppe der an den Stier gefesselten Diree unwidersprech-
lich war, machte die theilweise Verstümmelung die Nachprüfung, wie es mit
dem Strick beschaffen sei, den Plinius wieder als HauptcurioMt bezeichnet,
glücklicherweise gar nicht thunlich. Sollte man angesichts so schlagender Bei¬
spiele an der unmittelbaren Ableitung des Jupiters von Otricoli von
Phidias, der ludovisischen Juno von Polyklet, der mediceischen
Venus von Praxiteles Zweifel hegen? Die enthusiastische Verehrung der
Kunstwerke, die leichtfertige Behandlung der Schriftsteller, vor allem der Um¬
stand, daß die große Masse der aus römischem, überhaupt italischen Boden
hervorgegangenen Kunstwerke ihren Ursprung der Kaiserzeit verdankt und
einen durchgehenden gemeinsamen Charakter zeigt, daß es an Werken
früherer Zeiten, echt griechischen Ursprungs und damit an Anhaltspunkten
zu einer Begleichung, welche den Maßstab einer zu historischen Resultaten
führenden Würdigung bieten konnte, fast gänzlich fehlte, wirkten zusammen,
um Liebhaber und Antiquare ein Original nach dem andern entdecken zu
lassen. —

Allein schon eine gründlich prüfende künstlerische Betrachtung war ge¬
eignet, diese Illusionen zu zerstören. Ras. Mengs, mehr zum Aesthetiker
als zum Künstler geschaffen, unterwarf die Antiken Roms — denn damals
war ja fast noch alles, was man Herrliches und Schönes besaß, in Rom
vereinigt — einer scharfen, ins Einzelne dringenden Prüfung, zu welcher er
die Bildung eines denkenden und kenntnißreichen Mannes und die Erfah¬
rung eines die Technik mit Meisterschaft beherrschenden Künstlers mitbrachte.
Mit einer aus den Nachrichten der Alten gewonnenen hohen Vorstellung von
der idealen Größe und Schönheit der geistigen und technischen Leistungen der
griechischen Meister trat er an die Werke heran, die von ihnen erhalten sein
sollten; überall fand er in der Erfindung der Motive, in der Auffassung
und Darstellung der Formen, in der Composition, Spuren und Andeutungen
jener Vollendung, welche er als den Charakter der griechischen Kunst ansah,
aber überall durch Fehler und Ungeschicklichkeiten, oft unglaublicher Art, ent¬
stellt und verzerrt. Nirgends sah er die Elemente, die ihm einzeln, zerstreut


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/87>, abgerufen am 15.01.2025.