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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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deuten Entwicklung bilden, eine Vorstellung zu gewinnen, welche aus An¬
schauung wenigstens mittelbar abgeleitet ist. Ein Hilfsmittel steht ihr aller¬
dings zu Gebot, welches die Literatur in dieser Art nicht verwenden kann,
die Copien. Steht auch die Copie geistig und technisch weit unter dem
Original -- wie der Kupferstich nach einem Gemälde, wie der Clavierauszug
nach einer Partitur wesentlich nur ein Erinnerungsbehelf für den, der das
Original kennt --, immer hält sie soviel von diesem Original fest, daß durch sie
für dessen Erkenntniß und Würdigung feste Haltpunkte gegeben sind. Nun
kann man mit Zuversicht voraussetzen, daß im Alterthum wie zu allen Zei¬
ten von allgemein besprochenen und beliebten Kunstwerken Copien gemacht
worden sind; man kann mit Sicherheit behaupten, daß in der unermeßlich
reichen Weltstadt Rom, nachdem, wenn auch nicht Kunstgenuß, so doch Kunst¬
besitz ein Bedürfniß des Luxus geworden war, Copien von den Wunder¬
werken, in deren Besitz man nicht gelangen konnte, für die Liebhaber gemacht
werden mußten. Einleuchtender noch als die schriftlichen Zeugnisse, an denen
es nicht fehlt, bestätigt diese Thatsache ein Blick auf die vorhandenen Sculp-
turen. Wenn man dieselbe Figur oder Gruppe, dasselbe Motiv in einer
größern oder geringern Anzahl von Sculpturen, entweder genau, bis zu
völliger Uebereinstimmung in den Maßen, oder im einzelnen mit mehr oder
weniger willkürlichen Modificationen wiederholt oder auch wohl in einem
andern Zusammenhang verwendet findet, so darf man ohne Bedenken auf
ein angesehenes Original schließen. Aufmerksame Musterung stellt so aus
dem Gedränge unübersehlich scheinender Kunstwerke eine stattliche Reihe be¬
deutender Originale wieder her. Aber kann man dieselben auch näher be¬
zeichnen? kann man aus zuverlässigen Anzeichen die Zeit, den Meister erken¬
nen, welchen sie angehören? kann man das Verhältniß, in welchem die Copie
zum Original stand, genauer würdigen? kann man von der Kunst des Mei¬
sters aus den Nachbildungen wer weiß wie vielter Hand eine befriedigende
Vorstellung überzeugend ableiten? Von ,der Lösung dieser und ähnlicher
Fragen hängt, wie man sieht, das Gelingen der wesentlichen Aufgabe der
alten Kunstgeschichte ab, die fortschreitende Entwicklung der bildenden Kunst
in ihren bedeutendsten Erscheinungen wieder zur Anschauung zu bringen.

Anfangs nahm man es mit Fragen der Art keineswegs genau. Freude
und Genuß an der Schönheit der mannigfachen sich häufenden Kunstwerke
suchte man durch das Bewußtsein zu erhöhen, daß sie berühmten Meister¬
stücken des Alterthums galten. Die überlegene Schönheit, welche einen so
starken Reiz auszuüben im Stande war, wurde schon als vollgültiger Beweis
angesehen, daß man bekannte und besprochne Werke der alten Kunst vor sich
habe; es kam nur darauf an, den Beleg dafür zu finden, der dann freilich
nicht selten durch gleich seltsame Deutungen der Monumente und der Schrift-


deuten Entwicklung bilden, eine Vorstellung zu gewinnen, welche aus An¬
schauung wenigstens mittelbar abgeleitet ist. Ein Hilfsmittel steht ihr aller¬
dings zu Gebot, welches die Literatur in dieser Art nicht verwenden kann,
die Copien. Steht auch die Copie geistig und technisch weit unter dem
Original — wie der Kupferstich nach einem Gemälde, wie der Clavierauszug
nach einer Partitur wesentlich nur ein Erinnerungsbehelf für den, der das
Original kennt —, immer hält sie soviel von diesem Original fest, daß durch sie
für dessen Erkenntniß und Würdigung feste Haltpunkte gegeben sind. Nun
kann man mit Zuversicht voraussetzen, daß im Alterthum wie zu allen Zei¬
ten von allgemein besprochenen und beliebten Kunstwerken Copien gemacht
worden sind; man kann mit Sicherheit behaupten, daß in der unermeßlich
reichen Weltstadt Rom, nachdem, wenn auch nicht Kunstgenuß, so doch Kunst¬
besitz ein Bedürfniß des Luxus geworden war, Copien von den Wunder¬
werken, in deren Besitz man nicht gelangen konnte, für die Liebhaber gemacht
werden mußten. Einleuchtender noch als die schriftlichen Zeugnisse, an denen
es nicht fehlt, bestätigt diese Thatsache ein Blick auf die vorhandenen Sculp-
turen. Wenn man dieselbe Figur oder Gruppe, dasselbe Motiv in einer
größern oder geringern Anzahl von Sculpturen, entweder genau, bis zu
völliger Uebereinstimmung in den Maßen, oder im einzelnen mit mehr oder
weniger willkürlichen Modificationen wiederholt oder auch wohl in einem
andern Zusammenhang verwendet findet, so darf man ohne Bedenken auf
ein angesehenes Original schließen. Aufmerksame Musterung stellt so aus
dem Gedränge unübersehlich scheinender Kunstwerke eine stattliche Reihe be¬
deutender Originale wieder her. Aber kann man dieselben auch näher be¬
zeichnen? kann man aus zuverlässigen Anzeichen die Zeit, den Meister erken¬
nen, welchen sie angehören? kann man das Verhältniß, in welchem die Copie
zum Original stand, genauer würdigen? kann man von der Kunst des Mei¬
sters aus den Nachbildungen wer weiß wie vielter Hand eine befriedigende
Vorstellung überzeugend ableiten? Von ,der Lösung dieser und ähnlicher
Fragen hängt, wie man sieht, das Gelingen der wesentlichen Aufgabe der
alten Kunstgeschichte ab, die fortschreitende Entwicklung der bildenden Kunst
in ihren bedeutendsten Erscheinungen wieder zur Anschauung zu bringen.

Anfangs nahm man es mit Fragen der Art keineswegs genau. Freude
und Genuß an der Schönheit der mannigfachen sich häufenden Kunstwerke
suchte man durch das Bewußtsein zu erhöhen, daß sie berühmten Meister¬
stücken des Alterthums galten. Die überlegene Schönheit, welche einen so
starken Reiz auszuüben im Stande war, wurde schon als vollgültiger Beweis
angesehen, daß man bekannte und besprochne Werke der alten Kunst vor sich
habe; es kam nur darauf an, den Beleg dafür zu finden, der dann freilich
nicht selten durch gleich seltsame Deutungen der Monumente und der Schrift-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/86>, abgerufen am 15.01.2025.