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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Oestreichs und des Auslandes wird man das Wort vergeblich suchen, es
stünde denn daselbst als Curiosität in "Gänsefüßen". Ebensowenig war es
irgend jemals amtlich im Gebrauche. Der Deutsche versteht unter der "^t.
Wenzelskrone" nichts als jenes Product der Goldschmiedekunst des 14. Jahr¬
hunderts, das eine Zeitlang auf dem Grabe des heil. Wenzel aufbewahrt
wurde, nunmehr aber in einer eisernen Lade ruht und ihm nur deshalb nicht
"gestohlen werden kann": im Sinne der Czechen gebraucht aber bedeutet es
dieselbe Fiction, auf Grundlage deren auch das "dreieinige Königreich" der
Südslaven besteht, von dem es allbekannt ist, daß es eben gar nicht besteht.
Daß wir Deutschen das Wort überhaupt nicht haben, bedarf keiner Erklä¬
rung, es ist eben Thatsache; warum wir aber davon nichts wissen wollen,
was es den Czechen bedeutet, ist unschwer begreiflich. Dem Kaiserthume
Oestreich, für dessen Bestes zu sorgen wir Deutschen uns sür verpflichtet
halten, so lange wir ihm nur angehören, fehlte zu seinem Glücke sonst gar
nichts mehr, als daß es noch in so viele "Kronen" zerfiele, als es Landes¬
patrone und Feiertage hat! Jedes Ländchen seinen Landtag, zwei und drei
wieder zusammen einen "Generallandtag", und diese zusammen wieder ein
Organ "zur gemeinsamen Behandlung der höchsten Staatsausgaben" -- sollen
wir erst erklären, warum wir das nicht wollen, und wenn es bis heute
Morgen bestanden hätte, sowie es nicht bestand seit 1627. Oder wird es
nöthig sein, dem Orientirten zu erklären, warum wir eine moderne Konstitu¬
tion der Ständevertretung des Mittelalters vorziehen, "trotzdem daß diese
das Alter für sich hat." Als ein besonderer Fortschritt und wohl als Be¬
weis der Entwickelungsfähigkeit des Ständewesens -- an die wir freilich
beim Anblicke unsrer feudalen und ultramontanen Herren nicht glauben können
-- soll es gelten, daß die königlichen Städte Mährens 1848 sogar,je eine
Virilstimme erhielten! Eine etwa so verbesserte Ständevertretung sollte uns
Deutsche zur Schwärmerei für das Se. Wenzelsstaatssystem begeistern? --
Wer nur einige Städte Böhmens mit Namen kennt, hat gewiß auch den
des gewerbfleißigen Reichenberg, des größten Jndustrieortes Böhmens
gehört, und dieje Stadt, die allein so viel Steuern zahlt, wie ein kleines
Heer von landständischen Cavalieren, hätte auch dann noch nicht Einen
Vertreter, denn sie ist nicht königlich! Der ganze Bauernstand, die Intelli¬
genz und die gewerbreichen Städte und Jndustriedörfer Nordböhmens finden
keinen Raum in der Se. Wenzelsverfassung. Dem oberflächlichen Beobachter
scheinen allerdings die politischen Parteien Böhmens nur nach der Nationa¬
lität gruppirt, dies ist aber nur deshalb der Fall, weil es sich eben trifft,
daß gerade die industriereichen Gegenden in Böhmen und Mähren eine
deutsche Bevölkerung besitzen, die bei dem Se. Wenzelssysteme nicht nur
nichts gewinnen, vielmehr alles verlieren würde. Wenn man es aber ver¬
sucht hat, den Widerwillen der Deutschen gegen jene Theorie des czechischen
Staatsrechtes auf Rechnung eines uralten Nacenhasses zu schreiben, wie dies
unter den Czechensührern Sitte geworden ist, so laufen wir Deutschen Ge¬
fahr, von unseren eigenen Landsleuten in Deutschland nicht nur nicht unter¬
stützt, sondern geradezu verurtheilt zu werden, wenn bei. diesen nicht bald
eine genauere Einsicht in unsere Verhältnisse Platz greifen sollte. Von diesem
Standpunkte aus hielten wir diesen kurzen Anhang zu dem genannten Artikel
für nothwendig.




Verantwortliche Redacteure: Gustav Freytag u. Julius Eckardt.
Verlag von F. L. Hervig. -- Druck von Hüthel Legler in Leipzig.

Oestreichs und des Auslandes wird man das Wort vergeblich suchen, es
stünde denn daselbst als Curiosität in „Gänsefüßen". Ebensowenig war es
irgend jemals amtlich im Gebrauche. Der Deutsche versteht unter der „^t.
Wenzelskrone" nichts als jenes Product der Goldschmiedekunst des 14. Jahr¬
hunderts, das eine Zeitlang auf dem Grabe des heil. Wenzel aufbewahrt
wurde, nunmehr aber in einer eisernen Lade ruht und ihm nur deshalb nicht
„gestohlen werden kann": im Sinne der Czechen gebraucht aber bedeutet es
dieselbe Fiction, auf Grundlage deren auch das „dreieinige Königreich" der
Südslaven besteht, von dem es allbekannt ist, daß es eben gar nicht besteht.
Daß wir Deutschen das Wort überhaupt nicht haben, bedarf keiner Erklä¬
rung, es ist eben Thatsache; warum wir aber davon nichts wissen wollen,
was es den Czechen bedeutet, ist unschwer begreiflich. Dem Kaiserthume
Oestreich, für dessen Bestes zu sorgen wir Deutschen uns sür verpflichtet
halten, so lange wir ihm nur angehören, fehlte zu seinem Glücke sonst gar
nichts mehr, als daß es noch in so viele „Kronen" zerfiele, als es Landes¬
patrone und Feiertage hat! Jedes Ländchen seinen Landtag, zwei und drei
wieder zusammen einen „Generallandtag", und diese zusammen wieder ein
Organ „zur gemeinsamen Behandlung der höchsten Staatsausgaben" — sollen
wir erst erklären, warum wir das nicht wollen, und wenn es bis heute
Morgen bestanden hätte, sowie es nicht bestand seit 1627. Oder wird es
nöthig sein, dem Orientirten zu erklären, warum wir eine moderne Konstitu¬
tion der Ständevertretung des Mittelalters vorziehen, „trotzdem daß diese
das Alter für sich hat." Als ein besonderer Fortschritt und wohl als Be¬
weis der Entwickelungsfähigkeit des Ständewesens — an die wir freilich
beim Anblicke unsrer feudalen und ultramontanen Herren nicht glauben können
— soll es gelten, daß die königlichen Städte Mährens 1848 sogar,je eine
Virilstimme erhielten! Eine etwa so verbesserte Ständevertretung sollte uns
Deutsche zur Schwärmerei für das Se. Wenzelsstaatssystem begeistern? —
Wer nur einige Städte Böhmens mit Namen kennt, hat gewiß auch den
des gewerbfleißigen Reichenberg, des größten Jndustrieortes Böhmens
gehört, und dieje Stadt, die allein so viel Steuern zahlt, wie ein kleines
Heer von landständischen Cavalieren, hätte auch dann noch nicht Einen
Vertreter, denn sie ist nicht königlich! Der ganze Bauernstand, die Intelli¬
genz und die gewerbreichen Städte und Jndustriedörfer Nordböhmens finden
keinen Raum in der Se. Wenzelsverfassung. Dem oberflächlichen Beobachter
scheinen allerdings die politischen Parteien Böhmens nur nach der Nationa¬
lität gruppirt, dies ist aber nur deshalb der Fall, weil es sich eben trifft,
daß gerade die industriereichen Gegenden in Böhmen und Mähren eine
deutsche Bevölkerung besitzen, die bei dem Se. Wenzelssysteme nicht nur
nichts gewinnen, vielmehr alles verlieren würde. Wenn man es aber ver¬
sucht hat, den Widerwillen der Deutschen gegen jene Theorie des czechischen
Staatsrechtes auf Rechnung eines uralten Nacenhasses zu schreiben, wie dies
unter den Czechensührern Sitte geworden ist, so laufen wir Deutschen Ge¬
fahr, von unseren eigenen Landsleuten in Deutschland nicht nur nicht unter¬
stützt, sondern geradezu verurtheilt zu werden, wenn bei. diesen nicht bald
eine genauere Einsicht in unsere Verhältnisse Platz greifen sollte. Von diesem
Standpunkte aus hielten wir diesen kurzen Anhang zu dem genannten Artikel
für nothwendig.




Verantwortliche Redacteure: Gustav Freytag u. Julius Eckardt.
Verlag von F. L. Hervig. — Druck von Hüthel Legler in Leipzig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/84>, abgerufen am 15.01.2025.