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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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zumeist nur auf den ruhigen Genuß des leicht Erworbenen bedacht. Was
von Agitationen vorkommt, bedroht das ungarische Ministerium und die
diesem ergebene Partei -- die Majorität des ungarischen Landtages, ebenso
sehr wie die wiener Regierung und zwingt jenes zu einer gewissen Nach¬
giebigkeit, empfiehlt ihm die Vermeidung jedes Conflictes, durch welche die
mühsam gedämpften Volksleidenschaften aufgerufen werden könnten. Die
Deakpartei, mit reichen Regierungspfründen bedacht, hat bereits ganz den
Charakter einer quietistischen Regierungspartei angenommen, Deal selbst mit
seinen streng abgegrenzten Rechtsforderungen, seiner ausschließlichen Defensive
ist niemals der großen Masse des Volkes verständlich gewesen. Sollte diese
Gelegenheit erhalten, sich politisch zu regen, sollte ein neues ungarisches
Parlament in einem schlechten Getreidejahre zusammentreten, so werden andere
Stimmen als jene der Deakpartei den Ton angeben, so werden alle die
bedenklichen Punkte des Ausgleiches Fleisch und Farbe gewinnen. Das
Schlimme ist, daß im übrigen Oestreich der Ausgleich als ein Uebel, dem man
nun einmal nicht entgehen konnte, angesehen wird, ein Wanken desselben mit
einer gewissen Schadenfreude betrachtet würde. Wir würden für die Dauer
der gegenwärtigen Staatsordnung eine größere Gewähr besitzen, wenn in
Ungarn noch die aristokratische Verfassung thatsächlich bestände. Die Mag¬
natentafel ist aber die bloße Schleppe des Unterhauses geworden, die Sitten
und Institutionen des Landes, bisher so aristokratisch gefärbt, sind in einer
offenbaren Zersetzung begriffen, das Resultat dieses Prozesses gänzlich un¬
berechenbar.

Merkwürdig, während in Ungarn das aristokratische Element an poli¬
tischem Einfluß verliert, hat das wiener Herrenhaus entschieden an-Macht,
Bedeutung und Volkstümlichkeit gewonnen. Kein Zweifel, daß es größere
Cap acitäten zählt, als das Haus der Abgeordneten, daß sich ihm die größere
Aufmerksamkeit aller politisch Gebildeten zuwendet, nur die hier durchgeführ¬
ten Debatten sachlichen Werth besitzen. Darüber wundern wir uns nicht,
die östreichische Aristokratie erschien uns stets lebensfähiger als das gewöhn¬
liche deutsche Junkerthum. Was Staunen erregt, ist die Willigkeit, mit
welcher die stolzen Herren einem plebejischen Ministerium Folge leisten. An
der Spitze des letzteren steht freilich der "erste Cavalier Oestreichs". Doch
sei bemerkt, daß dieses von Schmerling gespendete Compliment keine persön¬
liche Spitze hat, sondern einfach auf das Privilegium der Auersperge, den
ersten Platz auf der böhmischen Herrenbank einzunehmen, sich bezieht. Der
Kern des Ministeriums ist und bleibt bürgerlich. Wir freuen uns darüber,
aber ein aus dem Abgeordnetenhause hervorgegangenes Ministerium, das seine
Hauptstützen im Herrenhaus findet, ist etwas so Absonderliches, daß wohl
einige Zeit vergehen muß, ehe wir uns daran gewöhnen werden. Man wird


zumeist nur auf den ruhigen Genuß des leicht Erworbenen bedacht. Was
von Agitationen vorkommt, bedroht das ungarische Ministerium und die
diesem ergebene Partei — die Majorität des ungarischen Landtages, ebenso
sehr wie die wiener Regierung und zwingt jenes zu einer gewissen Nach¬
giebigkeit, empfiehlt ihm die Vermeidung jedes Conflictes, durch welche die
mühsam gedämpften Volksleidenschaften aufgerufen werden könnten. Die
Deakpartei, mit reichen Regierungspfründen bedacht, hat bereits ganz den
Charakter einer quietistischen Regierungspartei angenommen, Deal selbst mit
seinen streng abgegrenzten Rechtsforderungen, seiner ausschließlichen Defensive
ist niemals der großen Masse des Volkes verständlich gewesen. Sollte diese
Gelegenheit erhalten, sich politisch zu regen, sollte ein neues ungarisches
Parlament in einem schlechten Getreidejahre zusammentreten, so werden andere
Stimmen als jene der Deakpartei den Ton angeben, so werden alle die
bedenklichen Punkte des Ausgleiches Fleisch und Farbe gewinnen. Das
Schlimme ist, daß im übrigen Oestreich der Ausgleich als ein Uebel, dem man
nun einmal nicht entgehen konnte, angesehen wird, ein Wanken desselben mit
einer gewissen Schadenfreude betrachtet würde. Wir würden für die Dauer
der gegenwärtigen Staatsordnung eine größere Gewähr besitzen, wenn in
Ungarn noch die aristokratische Verfassung thatsächlich bestände. Die Mag¬
natentafel ist aber die bloße Schleppe des Unterhauses geworden, die Sitten
und Institutionen des Landes, bisher so aristokratisch gefärbt, sind in einer
offenbaren Zersetzung begriffen, das Resultat dieses Prozesses gänzlich un¬
berechenbar.

Merkwürdig, während in Ungarn das aristokratische Element an poli¬
tischem Einfluß verliert, hat das wiener Herrenhaus entschieden an-Macht,
Bedeutung und Volkstümlichkeit gewonnen. Kein Zweifel, daß es größere
Cap acitäten zählt, als das Haus der Abgeordneten, daß sich ihm die größere
Aufmerksamkeit aller politisch Gebildeten zuwendet, nur die hier durchgeführ¬
ten Debatten sachlichen Werth besitzen. Darüber wundern wir uns nicht,
die östreichische Aristokratie erschien uns stets lebensfähiger als das gewöhn¬
liche deutsche Junkerthum. Was Staunen erregt, ist die Willigkeit, mit
welcher die stolzen Herren einem plebejischen Ministerium Folge leisten. An
der Spitze des letzteren steht freilich der „erste Cavalier Oestreichs". Doch
sei bemerkt, daß dieses von Schmerling gespendete Compliment keine persön¬
liche Spitze hat, sondern einfach auf das Privilegium der Auersperge, den
ersten Platz auf der böhmischen Herrenbank einzunehmen, sich bezieht. Der
Kern des Ministeriums ist und bleibt bürgerlich. Wir freuen uns darüber,
aber ein aus dem Abgeordnetenhause hervorgegangenes Ministerium, das seine
Hauptstützen im Herrenhaus findet, ist etwas so Absonderliches, daß wohl
einige Zeit vergehen muß, ehe wir uns daran gewöhnen werden. Man wird


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/78>, abgerufen am 15.01.2025.