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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Hie bisherigen Nachrichten über die adMmsche Expedition.

Unter dem Titel "Fahrten in Abyssinien" wurde beim Jahreswechsel in
London ein Blaubuch veröffentlicht' welches, zusammengesetzt aus den Werken
und Beschreibungen verschiedener abyssinischer Reisenden, interessante Mit¬
theilungen über dieses Land enthält, auf welches augenblicklich die Aufmerk¬
samkeit der ganzen Welt gerichtet ist. Nachdem das Blaubuch sich in aus¬
führlicher Weise über das Klima, die Bodenbeschaffenheit, über die geogra¬
phische Lage, die Communicationswege und die Landescultur des Reiches
ergangen, gelangt es zur Beschreibung der Sitten, Religion und Cultur der
Landesbewohner.

Die Abyssinier, so heißt es u. A., sind meist Christen und gehören zur
coptischen Secte. Sie beobachten unter anderen viele Grundsätze der römisch¬
katholischen Kirche, wie priesterliche Absolution, Fasten, Heiligenverehrung,
Klosterwesen :c. Zu diesen fügen sie seltsamer Weise einige Gebräuche des
mohamedanischen Glaubens hinzu und selbst Spuren des jüdischen Ritus
finden sich bei ihnen vor. Sie sind sehr abergläubisch, die Priester haben
unbedingten Einfluß über sie. Ihre Könige werden von dem Abuna, dem
Kirchenoberhaupte gekrönt, der seine Weihe in der Regel vom Patriarchen
von Alexandria erhält. Der gegenwärtige Abuna aber war unklug genug,
den Missionären in einer schwachen Stunde seine Muthmaßung mitzutheilen,
daß die Mutter des Theodorus nicht in directer Linie von der Königin
von sheba (Sabai) abstamme und diese Bezweiflung seines Familienstandes
verwundete den empfindlichen Monarchen derartig, daß der Abuna seit dieser
Zeit in Ungnade fiel. Nichtsdestoweniger steht dieser Kirchenfürst bei dem
Volke in so großem Ansehen, daß jeder Mann, den er der Krönung sür
würdig erachtet, vom Volke als König anerkannt werden würde. Unter den
Heiligen des abyssinischen Kalenders, der, nebenbeigesagt, von außergewöhnlich
großer Ausdehnung ist, figuriren: Bileam und sein Esel und Pontius Pi-
latus nebst seinem Weibe. Die Abyssinier haften so oft, daß wohl zwei
Drittel des Jahres dieser Enthaltsamkeit gewidmet sind. Der Bischof von
Jerusalem, Gobal, bezeichnet sie als höchst unmoralisch und aus¬
schweifend, knechtisch und bigott, aber gastfreundlich gegen Fremde und ohne
Neigung zur Grausamkeit. Die Shah 6s. deren Volk jetzt sehr oft erwähnt wird,
bekennen sich Mit vielen anderen Stämmen zum mohamedanischen Glauben.
Ueber die Kriegsmacht, die Abyssinien gegen eine feindliche Invasion ins
Feld stellen kann, läßt sich, angesichts der Spaltung zwischen den verschiedenen
Herrschern, nichts gewisses mittheilen. Theodorus konnte einst über eine


Hie bisherigen Nachrichten über die adMmsche Expedition.

Unter dem Titel „Fahrten in Abyssinien" wurde beim Jahreswechsel in
London ein Blaubuch veröffentlicht' welches, zusammengesetzt aus den Werken
und Beschreibungen verschiedener abyssinischer Reisenden, interessante Mit¬
theilungen über dieses Land enthält, auf welches augenblicklich die Aufmerk¬
samkeit der ganzen Welt gerichtet ist. Nachdem das Blaubuch sich in aus¬
führlicher Weise über das Klima, die Bodenbeschaffenheit, über die geogra¬
phische Lage, die Communicationswege und die Landescultur des Reiches
ergangen, gelangt es zur Beschreibung der Sitten, Religion und Cultur der
Landesbewohner.

Die Abyssinier, so heißt es u. A., sind meist Christen und gehören zur
coptischen Secte. Sie beobachten unter anderen viele Grundsätze der römisch¬
katholischen Kirche, wie priesterliche Absolution, Fasten, Heiligenverehrung,
Klosterwesen :c. Zu diesen fügen sie seltsamer Weise einige Gebräuche des
mohamedanischen Glaubens hinzu und selbst Spuren des jüdischen Ritus
finden sich bei ihnen vor. Sie sind sehr abergläubisch, die Priester haben
unbedingten Einfluß über sie. Ihre Könige werden von dem Abuna, dem
Kirchenoberhaupte gekrönt, der seine Weihe in der Regel vom Patriarchen
von Alexandria erhält. Der gegenwärtige Abuna aber war unklug genug,
den Missionären in einer schwachen Stunde seine Muthmaßung mitzutheilen,
daß die Mutter des Theodorus nicht in directer Linie von der Königin
von sheba (Sabai) abstamme und diese Bezweiflung seines Familienstandes
verwundete den empfindlichen Monarchen derartig, daß der Abuna seit dieser
Zeit in Ungnade fiel. Nichtsdestoweniger steht dieser Kirchenfürst bei dem
Volke in so großem Ansehen, daß jeder Mann, den er der Krönung sür
würdig erachtet, vom Volke als König anerkannt werden würde. Unter den
Heiligen des abyssinischen Kalenders, der, nebenbeigesagt, von außergewöhnlich
großer Ausdehnung ist, figuriren: Bileam und sein Esel und Pontius Pi-
latus nebst seinem Weibe. Die Abyssinier haften so oft, daß wohl zwei
Drittel des Jahres dieser Enthaltsamkeit gewidmet sind. Der Bischof von
Jerusalem, Gobal, bezeichnet sie als höchst unmoralisch und aus¬
schweifend, knechtisch und bigott, aber gastfreundlich gegen Fremde und ohne
Neigung zur Grausamkeit. Die Shah 6s. deren Volk jetzt sehr oft erwähnt wird,
bekennen sich Mit vielen anderen Stämmen zum mohamedanischen Glauben.
Ueber die Kriegsmacht, die Abyssinien gegen eine feindliche Invasion ins
Feld stellen kann, läßt sich, angesichts der Spaltung zwischen den verschiedenen
Herrschern, nichts gewisses mittheilen. Theodorus konnte einst über eine


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[0065] Hie bisherigen Nachrichten über die adMmsche Expedition. Unter dem Titel „Fahrten in Abyssinien" wurde beim Jahreswechsel in London ein Blaubuch veröffentlicht' welches, zusammengesetzt aus den Werken und Beschreibungen verschiedener abyssinischer Reisenden, interessante Mit¬ theilungen über dieses Land enthält, auf welches augenblicklich die Aufmerk¬ samkeit der ganzen Welt gerichtet ist. Nachdem das Blaubuch sich in aus¬ führlicher Weise über das Klima, die Bodenbeschaffenheit, über die geogra¬ phische Lage, die Communicationswege und die Landescultur des Reiches ergangen, gelangt es zur Beschreibung der Sitten, Religion und Cultur der Landesbewohner. Die Abyssinier, so heißt es u. A., sind meist Christen und gehören zur coptischen Secte. Sie beobachten unter anderen viele Grundsätze der römisch¬ katholischen Kirche, wie priesterliche Absolution, Fasten, Heiligenverehrung, Klosterwesen :c. Zu diesen fügen sie seltsamer Weise einige Gebräuche des mohamedanischen Glaubens hinzu und selbst Spuren des jüdischen Ritus finden sich bei ihnen vor. Sie sind sehr abergläubisch, die Priester haben unbedingten Einfluß über sie. Ihre Könige werden von dem Abuna, dem Kirchenoberhaupte gekrönt, der seine Weihe in der Regel vom Patriarchen von Alexandria erhält. Der gegenwärtige Abuna aber war unklug genug, den Missionären in einer schwachen Stunde seine Muthmaßung mitzutheilen, daß die Mutter des Theodorus nicht in directer Linie von der Königin von sheba (Sabai) abstamme und diese Bezweiflung seines Familienstandes verwundete den empfindlichen Monarchen derartig, daß der Abuna seit dieser Zeit in Ungnade fiel. Nichtsdestoweniger steht dieser Kirchenfürst bei dem Volke in so großem Ansehen, daß jeder Mann, den er der Krönung sür würdig erachtet, vom Volke als König anerkannt werden würde. Unter den Heiligen des abyssinischen Kalenders, der, nebenbeigesagt, von außergewöhnlich großer Ausdehnung ist, figuriren: Bileam und sein Esel und Pontius Pi- latus nebst seinem Weibe. Die Abyssinier haften so oft, daß wohl zwei Drittel des Jahres dieser Enthaltsamkeit gewidmet sind. Der Bischof von Jerusalem, Gobal, bezeichnet sie als höchst unmoralisch und aus¬ schweifend, knechtisch und bigott, aber gastfreundlich gegen Fremde und ohne Neigung zur Grausamkeit. Die Shah 6s. deren Volk jetzt sehr oft erwähnt wird, bekennen sich Mit vielen anderen Stämmen zum mohamedanischen Glauben. Ueber die Kriegsmacht, die Abyssinien gegen eine feindliche Invasion ins Feld stellen kann, läßt sich, angesichts der Spaltung zwischen den verschiedenen Herrschern, nichts gewisses mittheilen. Theodorus konnte einst über eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/65>, abgerufen am 15.01.2025.