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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Aufnahme eines der großen nationalen Reformcongresse zu sein. Dahingegen
leuchtete jetzt eine andere Hoffnung auf: ob nämlich in dem gewaltigen
luftreinigenden Gewitter des Krieges nicht die bösen Dünste verschwunden
seien, welche bisher den Gedanken noch gar nicht hatten aufkommen lassen,
den Protestantentag in der deutschen Hauptstadt des Protestantismus, in
Friedrichs des Großen, Lessings und Schleiermachers Stadt abzuhalten. Ent¬
weder aber wurde jener günstige Moment unmittelbar nach dem Friedens¬
schluß versäumt, wo die für gewöhnlich erstarrten Formen einmal flüssig und
weich, die erschütterten Gemüther einem großen Neuen offen waren -- oder es
war überhaupt besser, für das Vorrücken in diesen Mittelpunkt der deutschen
evangelischen Kirche die unfehlbaren, aber nur allmählich eintretenden Nach¬
wirkungen abzuwarten, welche der Anstoß des Kriegs über Oestreich und die
Kleinstaaterei sammt der darauf sich gründend..! nationalen Wiedergeburt
zuletzt auch auf das kirchliche Leben äußern mußte. Genug, die schon ge¬
faßte Idee, 1867 nach Berlin zu gehen, wurde mit dem Beschlusse vertauscht,
sich nach Neustadt an der Hardt 'in die protestantisch regsame vairische Pfalz
zu begeben.

So kam erst für dieses Jahr eine norddeutsche Stadt an die Reihe.
Mittlerweile hatte der bremer Protestantenverein, getragen von einer seltenen
Vereinigung tüchtiger junger theologischer Kräfte, sich etablirt; eine außer¬
ordentliche Theilnahme der männlichen und weiblichen Bevölkerung des Ortes,
neuerlich sogar durch einen kleinen Kirchenstreit geweckt, schloß sich daran,
und so bot sich Bremen wie von selber dar. Es wurde das Ziel des Mar¬
sches, mit welchem der in Süddeutschland begründete Protestantentag die
Linie des Mains und des thüringer Waldes vollends hinter sich zurücklassend
in die weite norddeutsche Ebene vordrang. Zu dieser nationalen Bewegung
also wenigstens ist die Initiative nicht im Nordosten, sondern im Südwesten
ergriffen worden. Hier ist Berlin nicht der Ausgangspunkt, sondern das
letzte Ziel. Bremen, das nun für immer eroberte, hat nur die Bedeutung
einer Station auf dem Wege, der schließlich in dem Mittelpunkt und auf
der beherrschenden Höhe der protestantischen deutschen Kirche auslaufen muß.

Die Versammlung war diesmal eine Zeitlang von Bluntschlis Aus¬
bleiben bedroht, der ihr als Präsident und Führer mindestens gleich wichtig
ist, wie früher Bennigsen dem Nationalverein, wie Braun dem volkswirth-
schaftlichen Congreß. Die Anstrengungen der Zollparlamentssession waren selbst
seiner kerngesunden Natur etwas viel geworden; in Heidelberg hatte er nach
der Rückkehr von Kiel gehäufte Arbeit vorgefunden. Die telegraphischen
Vorstellungen der Bremer indessen, daß es sehr schwer fallen werde, ihn im
Präsidium zu ersetzen, bestimmten ihn doch zu kommen. Wie er dann am
Morgen des 3. Juni nach einer durchfahrenen Nacht in der Kirche erschien,


Aufnahme eines der großen nationalen Reformcongresse zu sein. Dahingegen
leuchtete jetzt eine andere Hoffnung auf: ob nämlich in dem gewaltigen
luftreinigenden Gewitter des Krieges nicht die bösen Dünste verschwunden
seien, welche bisher den Gedanken noch gar nicht hatten aufkommen lassen,
den Protestantentag in der deutschen Hauptstadt des Protestantismus, in
Friedrichs des Großen, Lessings und Schleiermachers Stadt abzuhalten. Ent¬
weder aber wurde jener günstige Moment unmittelbar nach dem Friedens¬
schluß versäumt, wo die für gewöhnlich erstarrten Formen einmal flüssig und
weich, die erschütterten Gemüther einem großen Neuen offen waren — oder es
war überhaupt besser, für das Vorrücken in diesen Mittelpunkt der deutschen
evangelischen Kirche die unfehlbaren, aber nur allmählich eintretenden Nach¬
wirkungen abzuwarten, welche der Anstoß des Kriegs über Oestreich und die
Kleinstaaterei sammt der darauf sich gründend..! nationalen Wiedergeburt
zuletzt auch auf das kirchliche Leben äußern mußte. Genug, die schon ge¬
faßte Idee, 1867 nach Berlin zu gehen, wurde mit dem Beschlusse vertauscht,
sich nach Neustadt an der Hardt 'in die protestantisch regsame vairische Pfalz
zu begeben.

So kam erst für dieses Jahr eine norddeutsche Stadt an die Reihe.
Mittlerweile hatte der bremer Protestantenverein, getragen von einer seltenen
Vereinigung tüchtiger junger theologischer Kräfte, sich etablirt; eine außer¬
ordentliche Theilnahme der männlichen und weiblichen Bevölkerung des Ortes,
neuerlich sogar durch einen kleinen Kirchenstreit geweckt, schloß sich daran,
und so bot sich Bremen wie von selber dar. Es wurde das Ziel des Mar¬
sches, mit welchem der in Süddeutschland begründete Protestantentag die
Linie des Mains und des thüringer Waldes vollends hinter sich zurücklassend
in die weite norddeutsche Ebene vordrang. Zu dieser nationalen Bewegung
also wenigstens ist die Initiative nicht im Nordosten, sondern im Südwesten
ergriffen worden. Hier ist Berlin nicht der Ausgangspunkt, sondern das
letzte Ziel. Bremen, das nun für immer eroberte, hat nur die Bedeutung
einer Station auf dem Wege, der schließlich in dem Mittelpunkt und auf
der beherrschenden Höhe der protestantischen deutschen Kirche auslaufen muß.

Die Versammlung war diesmal eine Zeitlang von Bluntschlis Aus¬
bleiben bedroht, der ihr als Präsident und Führer mindestens gleich wichtig
ist, wie früher Bennigsen dem Nationalverein, wie Braun dem volkswirth-
schaftlichen Congreß. Die Anstrengungen der Zollparlamentssession waren selbst
seiner kerngesunden Natur etwas viel geworden; in Heidelberg hatte er nach
der Rückkehr von Kiel gehäufte Arbeit vorgefunden. Die telegraphischen
Vorstellungen der Bremer indessen, daß es sehr schwer fallen werde, ihn im
Präsidium zu ersetzen, bestimmten ihn doch zu kommen. Wie er dann am
Morgen des 3. Juni nach einer durchfahrenen Nacht in der Kirche erschien,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/476>, abgerufen am 15.01.2025.