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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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somit der landsmannschaftliche Charakter, den sie sonst so ängstlich wahrten,
erschüttert wurde. Es zeigte sich, daß, wenn sie nur an den Arbeiten sich
betheiligten, allmählich die sachlichen Momente auch die eigensinnigsten Vor¬
sätze durchbrechen mußten. Insofern kommen sie doch als andere von Berlin
zurück als sie hingezogen sind. 'Auch insofern, als sie sich stets ganz nachdrück¬
lich auf die Verträge beriefen, die ihnen innerlich so widerstreben und die
ihnen jetzt unentbehrlich sind als der Anhalt für ihre Defensive. Thüngen
und Probst im Parlament selbst, Oesterlen in der Volksversammlung vom
18. Mai betheuerten um die Wette ihre Treue gegen die Verträge, an welchen
der Süden redlich festhalten werde, und die ja eigentlich, wie Oesterlen
meinte, gar nicht nöthig gewesen wären, da der Süden ohnehin wisse, was
die nationale Pflicht erfordere; und noch im Rechenschaftsbericht haben die
vertragsmäßigen Pflichten ihre Stelle gefunden.

Freilich ist es eine eigenthümliche Auslegung dieses Vertragsverhält¬
nisses, wenn dasselbe Aktenstück gleichzeitig, wenn auch in verschämter Weise,
wieder die alten Südbundsideen erneuert. Und selbst in dieser Verklausu-
ttrung behagte den strengeren in der Partei, die Hindeutung auf die Verträge
nicht. Etliche, wie der berühmte Urheber der "modernen Versimpelung".
weigerten sich gerade deshalb, den. Rechenschaftsbericht zu unterzeichnen, und
mancher, der ihn unterschrieb, that es vielleicht mit dem stillen Gedanken, daß
man die Verträge natürlich so lange halte, als man sie eben halten müsse.
Steht ja doch auch der Name des Frhrn. v. Neurath unter dem Aktenstück,
und in den Organen der süddeutschen Fraction ist gegenwärtig keine Phrase
so beliebt, als daß diese Verträge selbstverständlich nur ein Stück Papier
seien, daß sie schnurstracks der Politik der Volkspartei zuwiderliefen, daß sie
verfassungswidrig zu Stande gekommen, daß sie nur aufgezwungen seien und
daß man sie sobald als möglich wieder demoliren müsse.

Allein daß die parlamentarischen Vertrerer der Partei in ihrer officiellen
Sprache gleichwohl genöthigt sind, sich auf den Boden der Verträge zu stel¬
len, derselben Verträge, die sie vor wenigen Monaten aufs leidenschaftlichste
bekämpft und zu Fall zu bringen versucht hatten, das ist denn doch ein
sprechendes Symptom der veränderten Lage. Sie sehen sich auf einen Bo-
den gedrängt, den sie nur mit Widerstreben betreten haben, den sie noch kurz
zuvor nicht hatten anerkennen wollen, und der ihnen doch jetzt unentbehrlich
geworden ist. Und wenn sie diese Verträge auch nur als Waffe gebrauchen,
mit der sie jede weitere Annäherung an den Norden abweisen, als Schild,
hinter dem sie wähnen ungestraft Sonderbündelei treiben zu dürfen, so
steht doch nicht ihnen allein die Auslegung des Vertragsverhältmsses zu,
und es wird dafür gesorgt werden, daß auch die Pflichten, die daraus ent¬
springen, die Consequenzen. zu welchen sie führen, nicht vergessen bleiben.


Grenzboten II. 1868.

somit der landsmannschaftliche Charakter, den sie sonst so ängstlich wahrten,
erschüttert wurde. Es zeigte sich, daß, wenn sie nur an den Arbeiten sich
betheiligten, allmählich die sachlichen Momente auch die eigensinnigsten Vor¬
sätze durchbrechen mußten. Insofern kommen sie doch als andere von Berlin
zurück als sie hingezogen sind. 'Auch insofern, als sie sich stets ganz nachdrück¬
lich auf die Verträge beriefen, die ihnen innerlich so widerstreben und die
ihnen jetzt unentbehrlich sind als der Anhalt für ihre Defensive. Thüngen
und Probst im Parlament selbst, Oesterlen in der Volksversammlung vom
18. Mai betheuerten um die Wette ihre Treue gegen die Verträge, an welchen
der Süden redlich festhalten werde, und die ja eigentlich, wie Oesterlen
meinte, gar nicht nöthig gewesen wären, da der Süden ohnehin wisse, was
die nationale Pflicht erfordere; und noch im Rechenschaftsbericht haben die
vertragsmäßigen Pflichten ihre Stelle gefunden.

Freilich ist es eine eigenthümliche Auslegung dieses Vertragsverhält¬
nisses, wenn dasselbe Aktenstück gleichzeitig, wenn auch in verschämter Weise,
wieder die alten Südbundsideen erneuert. Und selbst in dieser Verklausu-
ttrung behagte den strengeren in der Partei, die Hindeutung auf die Verträge
nicht. Etliche, wie der berühmte Urheber der „modernen Versimpelung".
weigerten sich gerade deshalb, den. Rechenschaftsbericht zu unterzeichnen, und
mancher, der ihn unterschrieb, that es vielleicht mit dem stillen Gedanken, daß
man die Verträge natürlich so lange halte, als man sie eben halten müsse.
Steht ja doch auch der Name des Frhrn. v. Neurath unter dem Aktenstück,
und in den Organen der süddeutschen Fraction ist gegenwärtig keine Phrase
so beliebt, als daß diese Verträge selbstverständlich nur ein Stück Papier
seien, daß sie schnurstracks der Politik der Volkspartei zuwiderliefen, daß sie
verfassungswidrig zu Stande gekommen, daß sie nur aufgezwungen seien und
daß man sie sobald als möglich wieder demoliren müsse.

Allein daß die parlamentarischen Vertrerer der Partei in ihrer officiellen
Sprache gleichwohl genöthigt sind, sich auf den Boden der Verträge zu stel¬
len, derselben Verträge, die sie vor wenigen Monaten aufs leidenschaftlichste
bekämpft und zu Fall zu bringen versucht hatten, das ist denn doch ein
sprechendes Symptom der veränderten Lage. Sie sehen sich auf einen Bo-
den gedrängt, den sie nur mit Widerstreben betreten haben, den sie noch kurz
zuvor nicht hatten anerkennen wollen, und der ihnen doch jetzt unentbehrlich
geworden ist. Und wenn sie diese Verträge auch nur als Waffe gebrauchen,
mit der sie jede weitere Annäherung an den Norden abweisen, als Schild,
hinter dem sie wähnen ungestraft Sonderbündelei treiben zu dürfen, so
steht doch nicht ihnen allein die Auslegung des Vertragsverhältmsses zu,
und es wird dafür gesorgt werden, daß auch die Pflichten, die daraus ent¬
springen, die Consequenzen. zu welchen sie führen, nicht vergessen bleiben.


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[0469] somit der landsmannschaftliche Charakter, den sie sonst so ängstlich wahrten, erschüttert wurde. Es zeigte sich, daß, wenn sie nur an den Arbeiten sich betheiligten, allmählich die sachlichen Momente auch die eigensinnigsten Vor¬ sätze durchbrechen mußten. Insofern kommen sie doch als andere von Berlin zurück als sie hingezogen sind. 'Auch insofern, als sie sich stets ganz nachdrück¬ lich auf die Verträge beriefen, die ihnen innerlich so widerstreben und die ihnen jetzt unentbehrlich sind als der Anhalt für ihre Defensive. Thüngen und Probst im Parlament selbst, Oesterlen in der Volksversammlung vom 18. Mai betheuerten um die Wette ihre Treue gegen die Verträge, an welchen der Süden redlich festhalten werde, und die ja eigentlich, wie Oesterlen meinte, gar nicht nöthig gewesen wären, da der Süden ohnehin wisse, was die nationale Pflicht erfordere; und noch im Rechenschaftsbericht haben die vertragsmäßigen Pflichten ihre Stelle gefunden. Freilich ist es eine eigenthümliche Auslegung dieses Vertragsverhält¬ nisses, wenn dasselbe Aktenstück gleichzeitig, wenn auch in verschämter Weise, wieder die alten Südbundsideen erneuert. Und selbst in dieser Verklausu- ttrung behagte den strengeren in der Partei, die Hindeutung auf die Verträge nicht. Etliche, wie der berühmte Urheber der „modernen Versimpelung". weigerten sich gerade deshalb, den. Rechenschaftsbericht zu unterzeichnen, und mancher, der ihn unterschrieb, that es vielleicht mit dem stillen Gedanken, daß man die Verträge natürlich so lange halte, als man sie eben halten müsse. Steht ja doch auch der Name des Frhrn. v. Neurath unter dem Aktenstück, und in den Organen der süddeutschen Fraction ist gegenwärtig keine Phrase so beliebt, als daß diese Verträge selbstverständlich nur ein Stück Papier seien, daß sie schnurstracks der Politik der Volkspartei zuwiderliefen, daß sie verfassungswidrig zu Stande gekommen, daß sie nur aufgezwungen seien und daß man sie sobald als möglich wieder demoliren müsse. Allein daß die parlamentarischen Vertrerer der Partei in ihrer officiellen Sprache gleichwohl genöthigt sind, sich auf den Boden der Verträge zu stel¬ len, derselben Verträge, die sie vor wenigen Monaten aufs leidenschaftlichste bekämpft und zu Fall zu bringen versucht hatten, das ist denn doch ein sprechendes Symptom der veränderten Lage. Sie sehen sich auf einen Bo- den gedrängt, den sie nur mit Widerstreben betreten haben, den sie noch kurz zuvor nicht hatten anerkennen wollen, und der ihnen doch jetzt unentbehrlich geworden ist. Und wenn sie diese Verträge auch nur als Waffe gebrauchen, mit der sie jede weitere Annäherung an den Norden abweisen, als Schild, hinter dem sie wähnen ungestraft Sonderbündelei treiben zu dürfen, so steht doch nicht ihnen allein die Auslegung des Vertragsverhältmsses zu, und es wird dafür gesorgt werden, daß auch die Pflichten, die daraus ent¬ springen, die Consequenzen. zu welchen sie führen, nicht vergessen bleiben. Grenzboten II. 1868.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/469>, abgerufen am 15.01.2025.