Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.schon an und für sich verkommenen Bevölkerung beigetragen hat. Weder Das preußisch-deutsche Element, das im südlichen Samogitien bemerk¬ Grenzboten II. 1868. 68
schon an und für sich verkommenen Bevölkerung beigetragen hat. Weder Das preußisch-deutsche Element, das im südlichen Samogitien bemerk¬ Grenzboten II. 1868. 68
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0461" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117993"/> <p xml:id="ID_1452" prev="#ID_1451"> schon an und für sich verkommenen Bevölkerung beigetragen hat. Weder<lb/> die dreifache Grenzwächterkette, die von Tauroggen nach Polangen gezo¬<lb/> gen worden ist, noch die Lichtung der finstern Tannenwälder, welche die<lb/> feuchten Niederungen des Niemen und der Jura bedecken, kann verhindern,<lb/> daß wilde Gesellen zu allen Tages- und Nachtzeiten an der Grenze umher¬<lb/> schwärmen, um die Waarenbündel, welche sie in den tilsiter Schmuggelcomp¬<lb/> toirs in Empfang genommen, den Späheraugen der Kosaken zu entziehen<lb/> und in sichere jüdische Verstecke zu bringen. Das Hauptcontingent für das<lb/> Schleichhändlerwesen wird preußischerseits geliefert, die Bewohner Samogi-<lb/> tiens begnügen sich in der Regel damit, die Helfershelfer. Hehler. Kundschaf¬<lb/> ter. Führer, gelegentlich auch die Denuncianten ihrer Grenznachbarn zu spie¬<lb/> len. Der Schmuggel ist so vollständig in das Volksbewußtsein und die<lb/> Tradition übergegangen, daß er für ein* Gewerbe wie jedes andere und<lb/> kaum jemandem für sittlich makelhaft gilt. Daß die Laster und Verbrechen,<lb/> welche von ihm unzertrennlich sind, Scheu vor ehrlicher Arbeit. Trunksucht,<lb/> "Verlogenheit, Habgier und Gleichgiltigkeit gegen Menschenleben, in vollster<lb/> Blüthe stehen, versteht sich von selbst.</p><lb/> <p xml:id="ID_1453"> Das preußisch-deutsche Element, das im südlichen Samogitien bemerk¬<lb/> bar wird, ist von dem kurländisch-deutschen, welches an der Nordgrenze<lb/> des Landes dominirt, wesentlich verschieden. Hier sind es Kaufleute, Händ¬<lb/> ler. Agenten. Handwerker. Schmuggler, zumeist Vertreter der niederen Schich¬<lb/> ten des Mittelstandes, welche das deutsche Element vertreten, und nicht so¬<lb/> wohl herrschen, als ihren Unterhalt verdienen und sich um jeden Preis<lb/> festsetzen und bereichern wollen, dort Aristokraten und Landwirthe, welche<lb/> eine stolze und zurückhaltende Stellung einnehmen. An der preußischen<lb/> Grenze wird sehr viel mehr deutsch gesprochen und verstanden, directer auf<lb/> das Landvolk eingewirkt, als bei schauten oder Schönberg — die sociale<lb/> Stellung des deutschen Elements ist dafür im Norden geachteter als im<lb/> Süden, wo die Deutschen als Eindringlinge und Ausländer angesehen wer¬<lb/> den. Die Befürchtung, das Preußen benachbarte Grenzland germanisirt zu<lb/> sehen, ist noch niemals in der russischen Presse aufgetaucht. - Besorgnisse vor<lb/> dem wachsenden Einfluß des kurländisch-deutschen Elements kehren in den<lb/> russischen Zeitungsblättern beinahe regelmäßig wieder. Während des Auf¬<lb/> standes von 1863 wurde sogar die Frage aufgeworfen, ob es nicht rath^in<lb/> und nützlich wäre, einzelne Kreise des Gouvernements Kowno zu Kurland<lb/> SU schlagen und den polnischen Gog durch den baltisch-deutschen Magog<lb/> austreiben zu lassen. Daß dieser Plan unausgeführt blieb, ist vielleicht für<lb/> beide Theile ein Glück gewesen, Kurland wenigstens hätte durch eine Ver¬<lb/> rückung seiner historischen Grenzen und durch die Versetzung mit fremden.<lb/> Elementen nicht gewonnen, sondern verloren.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1868. 68</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0461]
schon an und für sich verkommenen Bevölkerung beigetragen hat. Weder
die dreifache Grenzwächterkette, die von Tauroggen nach Polangen gezo¬
gen worden ist, noch die Lichtung der finstern Tannenwälder, welche die
feuchten Niederungen des Niemen und der Jura bedecken, kann verhindern,
daß wilde Gesellen zu allen Tages- und Nachtzeiten an der Grenze umher¬
schwärmen, um die Waarenbündel, welche sie in den tilsiter Schmuggelcomp¬
toirs in Empfang genommen, den Späheraugen der Kosaken zu entziehen
und in sichere jüdische Verstecke zu bringen. Das Hauptcontingent für das
Schleichhändlerwesen wird preußischerseits geliefert, die Bewohner Samogi-
tiens begnügen sich in der Regel damit, die Helfershelfer. Hehler. Kundschaf¬
ter. Führer, gelegentlich auch die Denuncianten ihrer Grenznachbarn zu spie¬
len. Der Schmuggel ist so vollständig in das Volksbewußtsein und die
Tradition übergegangen, daß er für ein* Gewerbe wie jedes andere und
kaum jemandem für sittlich makelhaft gilt. Daß die Laster und Verbrechen,
welche von ihm unzertrennlich sind, Scheu vor ehrlicher Arbeit. Trunksucht,
"Verlogenheit, Habgier und Gleichgiltigkeit gegen Menschenleben, in vollster
Blüthe stehen, versteht sich von selbst.
Das preußisch-deutsche Element, das im südlichen Samogitien bemerk¬
bar wird, ist von dem kurländisch-deutschen, welches an der Nordgrenze
des Landes dominirt, wesentlich verschieden. Hier sind es Kaufleute, Händ¬
ler. Agenten. Handwerker. Schmuggler, zumeist Vertreter der niederen Schich¬
ten des Mittelstandes, welche das deutsche Element vertreten, und nicht so¬
wohl herrschen, als ihren Unterhalt verdienen und sich um jeden Preis
festsetzen und bereichern wollen, dort Aristokraten und Landwirthe, welche
eine stolze und zurückhaltende Stellung einnehmen. An der preußischen
Grenze wird sehr viel mehr deutsch gesprochen und verstanden, directer auf
das Landvolk eingewirkt, als bei schauten oder Schönberg — die sociale
Stellung des deutschen Elements ist dafür im Norden geachteter als im
Süden, wo die Deutschen als Eindringlinge und Ausländer angesehen wer¬
den. Die Befürchtung, das Preußen benachbarte Grenzland germanisirt zu
sehen, ist noch niemals in der russischen Presse aufgetaucht. - Besorgnisse vor
dem wachsenden Einfluß des kurländisch-deutschen Elements kehren in den
russischen Zeitungsblättern beinahe regelmäßig wieder. Während des Auf¬
standes von 1863 wurde sogar die Frage aufgeworfen, ob es nicht rath^in
und nützlich wäre, einzelne Kreise des Gouvernements Kowno zu Kurland
SU schlagen und den polnischen Gog durch den baltisch-deutschen Magog
austreiben zu lassen. Daß dieser Plan unausgeführt blieb, ist vielleicht für
beide Theile ein Glück gewesen, Kurland wenigstens hätte durch eine Ver¬
rückung seiner historischen Grenzen und durch die Versetzung mit fremden.
Elementen nicht gewonnen, sondern verloren.
Grenzboten II. 1868. 68
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