Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.gewinnen, verordnet das Gesetz, daß alle diejenigen, welche sich freigeloost gewinnen, verordnet das Gesetz, daß alle diejenigen, welche sich freigeloost <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0046" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117578"/> <p xml:id="ID_156" prev="#ID_155" next="#ID_157"> gewinnen, verordnet das Gesetz, daß alle diejenigen, welche sich freigeloost<lb/> haben, jährlich 20 Tage eingezogen und einexercirt werden; diese Mobilgarde<lb/> soll im Kriegsfall die Garnison des Landes bilden; und um das neue System<lb/> sofort fertig hinzustellen, hat man dieser Clausel rückwirkende Kraft gegeben;<lb/> so daß sich die Freigeloosten der letzten 4 Jahre zu stellen haben. Die Be¬<lb/> deutung dieser Heeresreorganisation ist offenbar schwerwiegend; was auch der<lb/> Kriegsminister vorgebracht hat, um sie als eine Erleichterung und gleichere<lb/> Vertheilung der Militärlast erscheinen zu lassen, es ist unleugbar, daß sie dem<lb/> Lande große neue Lasten auflegt, sie entzieht 200,000 Mann mehr der pro-<lb/> ductiven Arbeit und belastet die Staatscasse mit deren Unterhalt; die Unru¬<lb/> hen im Süden zeigen, daß die Massen dies sehr wohl fühlen. sanguine<lb/> Politiker argumentirten nun so, daß die Negierung dadurch genöthigt sein<lb/> werde, als Aequivalent dem Volke die Freiheit zu gewähren. Doch dürfte<lb/> Preß- und Vereinsgesetz, wie sie endlich nach langen Kämpfen zu Stande<lb/> gekommen, diese Illusion schon hinlänglich zerstört haben; der Imperialismus<lb/> ist allerdings kein nackter Despotismus, aber er ist mit wirklicher freiheitlicher<lb/> Entwickelung doch unverträglich. Der Kaiser ist davon durchdrungen und<lb/> überzeugt, daß die Franzosen, zumal bei seiner jetzigen Lage, die Freiheit nur<lb/> brauchen würden, um ihn zu stürzen. Einfaches Stillsitzen ist aber auch nicht<lb/> möglich und Oliviers Alternative: 1a IibLrt6 on ig, guorrs, behält darum<lb/> ihre große Wahrheit. Die eigentliche Kriegsgefahr liegt in der innern Lage<lb/> Frankreichs, weit mehr als in den unhaltbaren Zuständen des Orients oder<lb/> sonstiger europäischer offener „Fragen". Freilich würde man dem Kaiser<lb/> Unrecht thun, wenn man glaubte, daß er einen großen Conflict wünscht,<lb/> im Gegentheil, er weiß, daß ein solcher ein Unternehmen von der höchsten<lb/> Gefahr für seine Dynastie sein würde und Frankreich schwerlich erheblichen<lb/> Gewinn bringen könnte, aber die Situation kann ihn nichtsdestoweniger<lb/> leicht zu einem derartigen Kampfe zwingen, gerade so, wie er sich zu der<lb/> zweiten römischen Expedition gedrängt sah. Niemand wird ihn für einen<lb/> bigotten Anhänger des alten Rechtes halten, hat ihn doch Pio Nouv<lb/> in vertraulichen Aeußerungen früher als Judas, als das Thier der Apo¬<lb/> kalypse bezeichnet; aber die Stimmung der großen Majorität des Landes,<lb/> welches viel clericaler ist, als man bei uns nach der französischen oder viel¬<lb/> mehr pariser Presse annimmt, nöthigte ihn, sich gegen Italien zu wenden,<lb/> und zwang Rouher zu der schwerwiegenden Erklärung vom ö. Dezember.<lb/> Napoleon ist, wie wir vorher sagten, kein einfacher Autokrat, er ist ein Cä¬<lb/> sar, der sorgfältig der Volksstimmung den Puls fühlen muß und sich nicht<lb/> etwa der heranbrausenden Lokomotive entgegenwerfen kann. In letzter In¬<lb/> stanz ist es daher die Nation, welche dafür verantwortlich ist, wie sie geführt<lb/> wird. Vor 20 Jahren stürzte das pariser Volk Louis Philipp, weil er ihm</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0046]
gewinnen, verordnet das Gesetz, daß alle diejenigen, welche sich freigeloost
haben, jährlich 20 Tage eingezogen und einexercirt werden; diese Mobilgarde
soll im Kriegsfall die Garnison des Landes bilden; und um das neue System
sofort fertig hinzustellen, hat man dieser Clausel rückwirkende Kraft gegeben;
so daß sich die Freigeloosten der letzten 4 Jahre zu stellen haben. Die Be¬
deutung dieser Heeresreorganisation ist offenbar schwerwiegend; was auch der
Kriegsminister vorgebracht hat, um sie als eine Erleichterung und gleichere
Vertheilung der Militärlast erscheinen zu lassen, es ist unleugbar, daß sie dem
Lande große neue Lasten auflegt, sie entzieht 200,000 Mann mehr der pro-
ductiven Arbeit und belastet die Staatscasse mit deren Unterhalt; die Unru¬
hen im Süden zeigen, daß die Massen dies sehr wohl fühlen. sanguine
Politiker argumentirten nun so, daß die Negierung dadurch genöthigt sein
werde, als Aequivalent dem Volke die Freiheit zu gewähren. Doch dürfte
Preß- und Vereinsgesetz, wie sie endlich nach langen Kämpfen zu Stande
gekommen, diese Illusion schon hinlänglich zerstört haben; der Imperialismus
ist allerdings kein nackter Despotismus, aber er ist mit wirklicher freiheitlicher
Entwickelung doch unverträglich. Der Kaiser ist davon durchdrungen und
überzeugt, daß die Franzosen, zumal bei seiner jetzigen Lage, die Freiheit nur
brauchen würden, um ihn zu stürzen. Einfaches Stillsitzen ist aber auch nicht
möglich und Oliviers Alternative: 1a IibLrt6 on ig, guorrs, behält darum
ihre große Wahrheit. Die eigentliche Kriegsgefahr liegt in der innern Lage
Frankreichs, weit mehr als in den unhaltbaren Zuständen des Orients oder
sonstiger europäischer offener „Fragen". Freilich würde man dem Kaiser
Unrecht thun, wenn man glaubte, daß er einen großen Conflict wünscht,
im Gegentheil, er weiß, daß ein solcher ein Unternehmen von der höchsten
Gefahr für seine Dynastie sein würde und Frankreich schwerlich erheblichen
Gewinn bringen könnte, aber die Situation kann ihn nichtsdestoweniger
leicht zu einem derartigen Kampfe zwingen, gerade so, wie er sich zu der
zweiten römischen Expedition gedrängt sah. Niemand wird ihn für einen
bigotten Anhänger des alten Rechtes halten, hat ihn doch Pio Nouv
in vertraulichen Aeußerungen früher als Judas, als das Thier der Apo¬
kalypse bezeichnet; aber die Stimmung der großen Majorität des Landes,
welches viel clericaler ist, als man bei uns nach der französischen oder viel¬
mehr pariser Presse annimmt, nöthigte ihn, sich gegen Italien zu wenden,
und zwang Rouher zu der schwerwiegenden Erklärung vom ö. Dezember.
Napoleon ist, wie wir vorher sagten, kein einfacher Autokrat, er ist ein Cä¬
sar, der sorgfältig der Volksstimmung den Puls fühlen muß und sich nicht
etwa der heranbrausenden Lokomotive entgegenwerfen kann. In letzter In¬
stanz ist es daher die Nation, welche dafür verantwortlich ist, wie sie geführt
wird. Vor 20 Jahren stürzte das pariser Volk Louis Philipp, weil er ihm
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