Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.wie die Anlegung großer Städte und die Heranziehung deutscher Bürger. Grenzboten II. 1868. 67
wie die Anlegung großer Städte und die Heranziehung deutscher Bürger. Grenzboten II. 1868. 67
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wie die Anlegung großer Städte und die Heranziehung deutscher Bürger.
Selbst die Polen, welche nach der Abtretung von 1411 gemeinsam mit den
Litthauern ins Land kamen, hatten alle Noth, sich in demselben zu behaupten
und die störrischen Schanden dem Christenglauben und dem Gehorsam gegen
ein geordnetes Staatswesen zu unterwerfen. Während es ihnen in dem
eigentlichen Litthauen (Wilna und Troll) rasch gelungen war, die Fürsten
und Edlen litthauischen Stammes mit dem Zauber polnischer Cultur und
römisch-katholischen Kirchenthums zu blenden und die gesammte Elite der
Nation für alle Zeiten zu polonisiren, vergingen hundert und mehr Jahre,
ehe die Samogitier dem Dienste der Götter abwendig gemacht wurden, die
in dem Schatten uralter Haine ihre heilige Stätte hatten. — Erst um die
Mitte des 16. Jahrhunderts war der Prozeß beendet, der sich in dem west¬
lichen Litthauen ungleich rascher vollzogen hatte; das Volk nahm die katho-
lische Religionen und wurde dem harten Druck einer Leibeigenschaft unter¬
worfen, welche Polen und polonisirte lithauische und samogitische' Edle
ausübten. Litthauen bestand damals aus drei verschiedenen Ländergruppen,
welche auch ethnographisch voneinander verschieden waren: dem eigentlichen
Litthauen (den Woyewodschaften Wilna und Troll), Samogitien und rus¬
sisch Litthauen (den Woyewodschaften Nowgorodeck, Minsk, Mcislaw, Witepsk
Smolensk, Polozk und polnisch Livland). Samogitien, das den Namen eines
Herzogtums trug, war thatsächlich nichts weiter als eine Woyewodschaft,
die der Palatinus von Rossieny verwaltete. — Sein Geschick ist von dem
der übrigen Theile des alten Polen in nichts verschieden gewesen, seine
Physiognomie trägt den polnischen Typus, obgleich nur 4—S Procent seiner
Bewohner dem lechischen Stamme angehören. Von den wenigen Städten
des Landes nimmt keine einzige eine irgend hervorragende Bedeutung in
Anspruch. Russische Officiere und Beamte, einzelne deutsche Kaufleute und
Handwerker und zahlreiche Juden bilden die Einwohnerschaft dieser traurigen
Flecken, welche den Namen von Städten kaum mehr verdienen. Zwei der¬
selben, Tauroggen und Georgenburg, werden als Grenz- und Handelsplätze
zuweilen genannt, aber auch sie sind im Rückgänge begriffen, seit die Chaussee,
welche von Mitau über Janiczek, schauten (Szavly) und Tauroggen an die
preußische Grenze führt, verödet liegt und die Eisenbahnlinien Riga-Düna-
burg und Dünaburg-Wilna-Wirballen dem Strom der Reisenden, welche von
Petersburg und aus den Ostseeprovinzen ins „Ausland" eilen, neue Wege
gewiesen haben. Die im Innern des Landes liegenden Orte Janischek und
schauten sind Nester, von deren Erbärmlichkeit und Armuth der verwöhnte
Westeuropäer sich kaum eine Vorstellung machen kann. Die wenigen offi¬
ziellen Gebäude und die Schenken ausgenommen, bestehen sie aus kleinen
schmutzigen Holzhütten, in denen augenkranke Juden ein Dasein fristen, dessen
Grenzboten II. 1868. 67
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