Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Meilen von den Thoren von Königsberg entfernt und berührten zwischen dem
66 und SS° nördlicher Breite die Seeküste. Der Boden des Landes ist
schon von Alters her durch seine Fruchtbarkeit und seine Menge fisch¬
reicher Gewässer bekannt. Zahlreiche kleine Seen, klare Bäche und Flüsse
durchschneiden die fruchtbaren, mit frischem Laubholz bedeckten Niederun¬
gen, sanfte Höhenzüge wechseln mit ausgedehnten Flachs- und Waizen-
seldern, deren Ergiebigkeit trotz mangelhafter Feldbestellung seit Jahrhunder¬
ten die gleiche bleibt. Alles, was die Natur geboten, scheint dazu angethan,
glückliche und behagliche Verhältnisse, Wohlstand und aufstrebende Cultur zu
begünstigen. Und doch ist dieses Land auf derselben niederen Stufe der Ent¬
wickelung geblieben, welche das polnische Livland, die abgelegene, von dem
Seeverkehr und den großen Städten gleich weit entfernte Landschaft, zu einem
der unwohnlichsten und verkommensten Winkel der Erde macht. Nur wo der
Wanderer sich in der Einöde schimmernder Wälder und idyllischer Flußthäler
verliert, wird ihm leicht und frei zu Muth und er kommt zu wirklichem Genuß
der bescheidenen, aber entwickelungsfähigen Reichthümer, welche die Natur
in dem Hinterkante des kurischen Haffs ausgebreitet hat; wo das Auge auf
menschliche Wohnungen oder Versuche zur Städtebildung, stößt, weicht es
scheu zurück, sühlt es sich peinlich berührt durch ein farb- und freudloses
Gemisch der verschiedenen Sprach- und Völkersplitter, welche zur Existenz im
Lande der Samaiten verurtheilt sind.

Die Urbewohner des alten Herzogthums sind die Samogitier, nach denen
das Land seinen Namen führt. Aber seit Jahrhunderten hat dieser Stamm
die Erinnerung daran verloren, daß er einst auf eigner Erde saß und seine
Geschicke selbst bestimmte. Das ahnungsvolle Wort, das jener Litthauer¬
könig dem livländischen Letten zurief, der ihn zu einem Vernichtungskrieg
gegen die deutschen Eroberer der Ostseeküste einlud: "non tu rnsties die rsx
cris" scheint auf alle Stämme der lithauischen Völkerfamilie zurückgefallen
zu sein. Keiner derselben hat es über das Bauernthum herausbringen und
ein selbständiges Staatswesen begründen können.

Dem Stamm der Samogitier werden etwa 450,000 Köpfe zugezählt;
ihre Verschiedenheit von den übrigen Litthauern beruht einzig auf gewissen
Dialekteigenthümlichkeiten, von specifisch samogitischen Culturformen ist auch
nicht entfernt die Rede, dieselben repräsentiren einzig eine besonders gut con-
servirte Species des Altlitthauerthums. Ms compacte Masse bewohnen sie
das Land, welches sich von der Südgrenze Kurlands bis zu der polnischen
Stadt Suwalki ausdehnt. Im Osten bildet der 41. Grad östlicher Länge
die äußerste Grenze ihrer Ansiedelung, westlich sind sie nur an einzelnen
Punkten über den 39° vorgedrungen, an der Seeküste haben sie allenthalben
vor den Deutschen zurückweichen müssen. In dem östlich von Königsberg


Meilen von den Thoren von Königsberg entfernt und berührten zwischen dem
66 und SS° nördlicher Breite die Seeküste. Der Boden des Landes ist
schon von Alters her durch seine Fruchtbarkeit und seine Menge fisch¬
reicher Gewässer bekannt. Zahlreiche kleine Seen, klare Bäche und Flüsse
durchschneiden die fruchtbaren, mit frischem Laubholz bedeckten Niederun¬
gen, sanfte Höhenzüge wechseln mit ausgedehnten Flachs- und Waizen-
seldern, deren Ergiebigkeit trotz mangelhafter Feldbestellung seit Jahrhunder¬
ten die gleiche bleibt. Alles, was die Natur geboten, scheint dazu angethan,
glückliche und behagliche Verhältnisse, Wohlstand und aufstrebende Cultur zu
begünstigen. Und doch ist dieses Land auf derselben niederen Stufe der Ent¬
wickelung geblieben, welche das polnische Livland, die abgelegene, von dem
Seeverkehr und den großen Städten gleich weit entfernte Landschaft, zu einem
der unwohnlichsten und verkommensten Winkel der Erde macht. Nur wo der
Wanderer sich in der Einöde schimmernder Wälder und idyllischer Flußthäler
verliert, wird ihm leicht und frei zu Muth und er kommt zu wirklichem Genuß
der bescheidenen, aber entwickelungsfähigen Reichthümer, welche die Natur
in dem Hinterkante des kurischen Haffs ausgebreitet hat; wo das Auge auf
menschliche Wohnungen oder Versuche zur Städtebildung, stößt, weicht es
scheu zurück, sühlt es sich peinlich berührt durch ein farb- und freudloses
Gemisch der verschiedenen Sprach- und Völkersplitter, welche zur Existenz im
Lande der Samaiten verurtheilt sind.

Die Urbewohner des alten Herzogthums sind die Samogitier, nach denen
das Land seinen Namen führt. Aber seit Jahrhunderten hat dieser Stamm
die Erinnerung daran verloren, daß er einst auf eigner Erde saß und seine
Geschicke selbst bestimmte. Das ahnungsvolle Wort, das jener Litthauer¬
könig dem livländischen Letten zurief, der ihn zu einem Vernichtungskrieg
gegen die deutschen Eroberer der Ostseeküste einlud: „non tu rnsties die rsx
cris" scheint auf alle Stämme der lithauischen Völkerfamilie zurückgefallen
zu sein. Keiner derselben hat es über das Bauernthum herausbringen und
ein selbständiges Staatswesen begründen können.

Dem Stamm der Samogitier werden etwa 450,000 Köpfe zugezählt;
ihre Verschiedenheit von den übrigen Litthauern beruht einzig auf gewissen
Dialekteigenthümlichkeiten, von specifisch samogitischen Culturformen ist auch
nicht entfernt die Rede, dieselben repräsentiren einzig eine besonders gut con-
servirte Species des Altlitthauerthums. Ms compacte Masse bewohnen sie
das Land, welches sich von der Südgrenze Kurlands bis zu der polnischen
Stadt Suwalki ausdehnt. Im Osten bildet der 41. Grad östlicher Länge
die äußerste Grenze ihrer Ansiedelung, westlich sind sie nur an einzelnen
Punkten über den 39° vorgedrungen, an der Seeküste haben sie allenthalben
vor den Deutschen zurückweichen müssen. In dem östlich von Königsberg


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0450" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117982"/>
          <p xml:id="ID_1432" prev="#ID_1431"> Meilen von den Thoren von Königsberg entfernt und berührten zwischen dem<lb/>
66 und SS° nördlicher Breite die Seeküste. Der Boden des Landes ist<lb/>
schon von Alters her durch seine Fruchtbarkeit und seine Menge fisch¬<lb/>
reicher Gewässer bekannt. Zahlreiche kleine Seen, klare Bäche und Flüsse<lb/>
durchschneiden die fruchtbaren, mit frischem Laubholz bedeckten Niederun¬<lb/>
gen, sanfte Höhenzüge wechseln mit ausgedehnten Flachs- und Waizen-<lb/>
seldern, deren Ergiebigkeit trotz mangelhafter Feldbestellung seit Jahrhunder¬<lb/>
ten die gleiche bleibt. Alles, was die Natur geboten, scheint dazu angethan,<lb/>
glückliche und behagliche Verhältnisse, Wohlstand und aufstrebende Cultur zu<lb/>
begünstigen. Und doch ist dieses Land auf derselben niederen Stufe der Ent¬<lb/>
wickelung geblieben, welche das polnische Livland, die abgelegene, von dem<lb/>
Seeverkehr und den großen Städten gleich weit entfernte Landschaft, zu einem<lb/>
der unwohnlichsten und verkommensten Winkel der Erde macht. Nur wo der<lb/>
Wanderer sich in der Einöde schimmernder Wälder und idyllischer Flußthäler<lb/>
verliert, wird ihm leicht und frei zu Muth und er kommt zu wirklichem Genuß<lb/>
der bescheidenen, aber entwickelungsfähigen Reichthümer, welche die Natur<lb/>
in dem Hinterkante des kurischen Haffs ausgebreitet hat; wo das Auge auf<lb/>
menschliche Wohnungen oder Versuche zur Städtebildung, stößt, weicht es<lb/>
scheu zurück, sühlt es sich peinlich berührt durch ein farb- und freudloses<lb/>
Gemisch der verschiedenen Sprach- und Völkersplitter, welche zur Existenz im<lb/>
Lande der Samaiten verurtheilt sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1433"> Die Urbewohner des alten Herzogthums sind die Samogitier, nach denen<lb/>
das Land seinen Namen führt. Aber seit Jahrhunderten hat dieser Stamm<lb/>
die Erinnerung daran verloren, daß er einst auf eigner Erde saß und seine<lb/>
Geschicke selbst bestimmte. Das ahnungsvolle Wort, das jener Litthauer¬<lb/>
könig dem livländischen Letten zurief, der ihn zu einem Vernichtungskrieg<lb/>
gegen die deutschen Eroberer der Ostseeküste einlud: &#x201E;non tu rnsties die rsx<lb/>
cris" scheint auf alle Stämme der lithauischen Völkerfamilie zurückgefallen<lb/>
zu sein. Keiner derselben hat es über das Bauernthum herausbringen und<lb/>
ein selbständiges Staatswesen begründen können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1434" next="#ID_1435"> Dem Stamm der Samogitier werden etwa 450,000 Köpfe zugezählt;<lb/>
ihre Verschiedenheit von den übrigen Litthauern beruht einzig auf gewissen<lb/>
Dialekteigenthümlichkeiten, von specifisch samogitischen Culturformen ist auch<lb/>
nicht entfernt die Rede, dieselben repräsentiren einzig eine besonders gut con-<lb/>
servirte Species des Altlitthauerthums. Ms compacte Masse bewohnen sie<lb/>
das Land, welches sich von der Südgrenze Kurlands bis zu der polnischen<lb/>
Stadt Suwalki ausdehnt. Im Osten bildet der 41. Grad östlicher Länge<lb/>
die äußerste Grenze ihrer Ansiedelung, westlich sind sie nur an einzelnen<lb/>
Punkten über den 39° vorgedrungen, an der Seeküste haben sie allenthalben<lb/>
vor den Deutschen zurückweichen müssen. In dem östlich von Königsberg</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0450] Meilen von den Thoren von Königsberg entfernt und berührten zwischen dem 66 und SS° nördlicher Breite die Seeküste. Der Boden des Landes ist schon von Alters her durch seine Fruchtbarkeit und seine Menge fisch¬ reicher Gewässer bekannt. Zahlreiche kleine Seen, klare Bäche und Flüsse durchschneiden die fruchtbaren, mit frischem Laubholz bedeckten Niederun¬ gen, sanfte Höhenzüge wechseln mit ausgedehnten Flachs- und Waizen- seldern, deren Ergiebigkeit trotz mangelhafter Feldbestellung seit Jahrhunder¬ ten die gleiche bleibt. Alles, was die Natur geboten, scheint dazu angethan, glückliche und behagliche Verhältnisse, Wohlstand und aufstrebende Cultur zu begünstigen. Und doch ist dieses Land auf derselben niederen Stufe der Ent¬ wickelung geblieben, welche das polnische Livland, die abgelegene, von dem Seeverkehr und den großen Städten gleich weit entfernte Landschaft, zu einem der unwohnlichsten und verkommensten Winkel der Erde macht. Nur wo der Wanderer sich in der Einöde schimmernder Wälder und idyllischer Flußthäler verliert, wird ihm leicht und frei zu Muth und er kommt zu wirklichem Genuß der bescheidenen, aber entwickelungsfähigen Reichthümer, welche die Natur in dem Hinterkante des kurischen Haffs ausgebreitet hat; wo das Auge auf menschliche Wohnungen oder Versuche zur Städtebildung, stößt, weicht es scheu zurück, sühlt es sich peinlich berührt durch ein farb- und freudloses Gemisch der verschiedenen Sprach- und Völkersplitter, welche zur Existenz im Lande der Samaiten verurtheilt sind. Die Urbewohner des alten Herzogthums sind die Samogitier, nach denen das Land seinen Namen führt. Aber seit Jahrhunderten hat dieser Stamm die Erinnerung daran verloren, daß er einst auf eigner Erde saß und seine Geschicke selbst bestimmte. Das ahnungsvolle Wort, das jener Litthauer¬ könig dem livländischen Letten zurief, der ihn zu einem Vernichtungskrieg gegen die deutschen Eroberer der Ostseeküste einlud: „non tu rnsties die rsx cris" scheint auf alle Stämme der lithauischen Völkerfamilie zurückgefallen zu sein. Keiner derselben hat es über das Bauernthum herausbringen und ein selbständiges Staatswesen begründen können. Dem Stamm der Samogitier werden etwa 450,000 Köpfe zugezählt; ihre Verschiedenheit von den übrigen Litthauern beruht einzig auf gewissen Dialekteigenthümlichkeiten, von specifisch samogitischen Culturformen ist auch nicht entfernt die Rede, dieselben repräsentiren einzig eine besonders gut con- servirte Species des Altlitthauerthums. Ms compacte Masse bewohnen sie das Land, welches sich von der Südgrenze Kurlands bis zu der polnischen Stadt Suwalki ausdehnt. Im Osten bildet der 41. Grad östlicher Länge die äußerste Grenze ihrer Ansiedelung, westlich sind sie nur an einzelnen Punkten über den 39° vorgedrungen, an der Seeküste haben sie allenthalben vor den Deutschen zurückweichen müssen. In dem östlich von Königsberg

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/450
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/450>, abgerufen am 15.01.2025.