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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Französische Zustände.

' Es geht abwärts mit dem Kaiserreich. Während dürftige officielle Publi¬
kationen die Popularität des neuen Armeegesetzes preisen, erhebt sich im Sü¬
den die rothe Fahne in den Händen der jungen Leute, welche sich der Ein-
zeichnung in die Mobilgarde widersetzen; während der Finanzminister sich
bereitet, das neue Anlehen aufzulegen, erscheint eine Flugschrift nach der
andern, um das Land darüber aufzuklären, was ihm in runder Summe das
napoleonische persönliche Regiment gekostet. Eine unmittelbare Gefahr liegt
freilich für den Kaiser in beidem nicht, der socialistische Charakter der Unruhen
in Toulouse und Bordeaux muß alle besitzenden Classen aus seine Seite
drängen und die französischen Finanzen können noch manche Last mehr ver¬
tragen, aber als Symptome der wachsenden Unzufriedenheit verdienen jene
Erscheinungen alle Aufmerksamkeit; die Nation und die Armee sind in jenem
Zustand krankhafter Aufregung, welcher gewöhnlich in Frankreich einem Kriege
oder einer Revolution vorangeht. Betrachten wir daher kurz diese beiden
Momente, welche dem Mißvergnügen so starke neue Nahrung gegeben, das
Armeegesetz und das Deficit, welches das Anlehen nöthig macht.

Als der Kaiser sich nach seiner großen Fehlrechnung von 1866 zur Re¬
organisation des Heeres entschloß, wünschte er das preußische System der
allgemeinen Wehrpflicht einzuführen; er sah vollkommen ein, daß es durch
seine kurze Dienstzeit das Sparsamste sei, drei Jahre Dienst erlauben frühes
Heirathen und nehmen den arbeitenden Classen verhältnißmäßig wenig von
ihrer Zeit. Aber er stieß bei seinen Marschällen wie bei den Bauern auf
unüberwindlichen Widerstand, bei ersteren, weil sie eine leichter zu mobili-
sirende Armee wünschten, bei letzteren, weil sie die Möglichkeit des Freiloosens
nicht aufgeben wollten. Das jetzige Gesetz hat nun die Dienstzeit um zwei
Jahre verlängert, wodurch, da das Jahrescontingent 100.000 Mann beträgt,
die Gesammtziffer der stehenden Armee von 700,000 auf 900,000 Mann er¬
höht wird, 100,000 Mann mögen durch verschiedenartige Umstände ausfallen,
es bleibt also eine verfügbare Macht von 800,000 Mann. Nun braucht aber
Frankreich bei einem auswärtigen Krieg eine große Besatzung; um diese zu


Grenzboten II. 1868. 6
Französische Zustände.

' Es geht abwärts mit dem Kaiserreich. Während dürftige officielle Publi¬
kationen die Popularität des neuen Armeegesetzes preisen, erhebt sich im Sü¬
den die rothe Fahne in den Händen der jungen Leute, welche sich der Ein-
zeichnung in die Mobilgarde widersetzen; während der Finanzminister sich
bereitet, das neue Anlehen aufzulegen, erscheint eine Flugschrift nach der
andern, um das Land darüber aufzuklären, was ihm in runder Summe das
napoleonische persönliche Regiment gekostet. Eine unmittelbare Gefahr liegt
freilich für den Kaiser in beidem nicht, der socialistische Charakter der Unruhen
in Toulouse und Bordeaux muß alle besitzenden Classen aus seine Seite
drängen und die französischen Finanzen können noch manche Last mehr ver¬
tragen, aber als Symptome der wachsenden Unzufriedenheit verdienen jene
Erscheinungen alle Aufmerksamkeit; die Nation und die Armee sind in jenem
Zustand krankhafter Aufregung, welcher gewöhnlich in Frankreich einem Kriege
oder einer Revolution vorangeht. Betrachten wir daher kurz diese beiden
Momente, welche dem Mißvergnügen so starke neue Nahrung gegeben, das
Armeegesetz und das Deficit, welches das Anlehen nöthig macht.

Als der Kaiser sich nach seiner großen Fehlrechnung von 1866 zur Re¬
organisation des Heeres entschloß, wünschte er das preußische System der
allgemeinen Wehrpflicht einzuführen; er sah vollkommen ein, daß es durch
seine kurze Dienstzeit das Sparsamste sei, drei Jahre Dienst erlauben frühes
Heirathen und nehmen den arbeitenden Classen verhältnißmäßig wenig von
ihrer Zeit. Aber er stieß bei seinen Marschällen wie bei den Bauern auf
unüberwindlichen Widerstand, bei ersteren, weil sie eine leichter zu mobili-
sirende Armee wünschten, bei letzteren, weil sie die Möglichkeit des Freiloosens
nicht aufgeben wollten. Das jetzige Gesetz hat nun die Dienstzeit um zwei
Jahre verlängert, wodurch, da das Jahrescontingent 100.000 Mann beträgt,
die Gesammtziffer der stehenden Armee von 700,000 auf 900,000 Mann er¬
höht wird, 100,000 Mann mögen durch verschiedenartige Umstände ausfallen,
es bleibt also eine verfügbare Macht von 800,000 Mann. Nun braucht aber
Frankreich bei einem auswärtigen Krieg eine große Besatzung; um diese zu


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[0045] Französische Zustände. ' Es geht abwärts mit dem Kaiserreich. Während dürftige officielle Publi¬ kationen die Popularität des neuen Armeegesetzes preisen, erhebt sich im Sü¬ den die rothe Fahne in den Händen der jungen Leute, welche sich der Ein- zeichnung in die Mobilgarde widersetzen; während der Finanzminister sich bereitet, das neue Anlehen aufzulegen, erscheint eine Flugschrift nach der andern, um das Land darüber aufzuklären, was ihm in runder Summe das napoleonische persönliche Regiment gekostet. Eine unmittelbare Gefahr liegt freilich für den Kaiser in beidem nicht, der socialistische Charakter der Unruhen in Toulouse und Bordeaux muß alle besitzenden Classen aus seine Seite drängen und die französischen Finanzen können noch manche Last mehr ver¬ tragen, aber als Symptome der wachsenden Unzufriedenheit verdienen jene Erscheinungen alle Aufmerksamkeit; die Nation und die Armee sind in jenem Zustand krankhafter Aufregung, welcher gewöhnlich in Frankreich einem Kriege oder einer Revolution vorangeht. Betrachten wir daher kurz diese beiden Momente, welche dem Mißvergnügen so starke neue Nahrung gegeben, das Armeegesetz und das Deficit, welches das Anlehen nöthig macht. Als der Kaiser sich nach seiner großen Fehlrechnung von 1866 zur Re¬ organisation des Heeres entschloß, wünschte er das preußische System der allgemeinen Wehrpflicht einzuführen; er sah vollkommen ein, daß es durch seine kurze Dienstzeit das Sparsamste sei, drei Jahre Dienst erlauben frühes Heirathen und nehmen den arbeitenden Classen verhältnißmäßig wenig von ihrer Zeit. Aber er stieß bei seinen Marschällen wie bei den Bauern auf unüberwindlichen Widerstand, bei ersteren, weil sie eine leichter zu mobili- sirende Armee wünschten, bei letzteren, weil sie die Möglichkeit des Freiloosens nicht aufgeben wollten. Das jetzige Gesetz hat nun die Dienstzeit um zwei Jahre verlängert, wodurch, da das Jahrescontingent 100.000 Mann beträgt, die Gesammtziffer der stehenden Armee von 700,000 auf 900,000 Mann er¬ höht wird, 100,000 Mann mögen durch verschiedenartige Umstände ausfallen, es bleibt also eine verfügbare Macht von 800,000 Mann. Nun braucht aber Frankreich bei einem auswärtigen Krieg eine große Besatzung; um diese zu Grenzboten II. 1868. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/45>, abgerufen am 15.01.2025.