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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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wohnten östreichischen und türkischen Länder unter das Scepter von Belgrad,
endlich eine auswärtige Politik, welche es auf nichts weniger als die gänzliche
Zertrümmerung des türkischen Reichs und die Befreiung aller unter türkischer
Botmäßigkeit stehenden Slaven absehen müsse. Was nach Erreichung dieses
Ziels geschehen sollte, darüber gingen die Meinungen der Parteigenossen
auseinander: die specifischen Großserben wünschten die Aufrechterhaltung des
serbischen Staats und eine Hegemonie desselben über die übrigen Donauslaven;
vorgeschrittener Elemente träumten von einer westslavischen Föderativ-Repu-
blik, welcher u. A. auch Ungarn angehören sollte, -- die panslavistischen
Enrage"s meinten, der slavisch-russische Weltstaat der Zukunft sei berufen,
auch die Donauländer unter seine Fittige zu nehmen. Trotz dieser Meinungs¬
verschiedenheiten über die letzten Ziele waren alle Fraktionen der großen natio¬
nalen Partei darüber einig, daß Serbien an die Spitze der südslavischen
arti-türkischen Bewegung treten müsse und daß jede Politik, die eine Ver¬
ständigung mit den Regierungen von Constantinopel und Wien verfolge,
verrätherisch, unvolksthümlich und verwerflich sei.

Keiner der Fürsten, welche seit der Erhebung des alten Milosch an der
Spitze der serbischen Geschäfte standen, hat das von der Nationalpartei auf¬
gestellte Programm im Ernste zu dem seinigen gemacht; die Obrenowitsch
wie die Karageorgewitsch sind vor dem Wagestück zurückgebebt, die Existenz
des vorhandenen, mühsam errungenen Serbenstaats um panslavistischer
Zukunftsträume willen auf die Karte zu setzen. Milosch und dessen Nach¬
folger wußten zu genau, daß die von dem Volke gehoffte uneigennützige
Beihilfe Rußlands zur Erreichung der großserbischen Pläne eine Chimäre sei,
um im blinden Vertrauen auf dieselbe den Kampf gegen den Divan, Oest¬
reich und die Westmächte zu unternehmen; sie hatten eine zu klare Vorstellung
von der Tragweite des Unternehmens, welches ihnen zugemuthet wurde, um
eine specifisch-serbische Lösung der orientalischen Frage für möglich zu halten.
Dieselbe panslavistische Idee, an der die Massen sich erwärmten und begeisterten,
war den in der Wirklichkeit lebenden serbischen Staatsmännern ein gefürch-
tetes Gespenst, an welches sich peinliche Vorstellungen von Beseitigung der
herrschenden Dynastie, Auflösung des serbischen Staatsverbandes, Verkeilung
der einzelnen Bezirke desselben an die Nachbarprovinzen, oder aber Aufgehen
in das große russische Reich knüpften.

Schon der alte Milosch, in dessen Schule Garaschanin seine politische
Bildung erworben, war von der Nothwendigkeit einer Verständigung mit
der Türkei und einer vorsichtigen Mittelstellung zwischen Rußland und den
Westmächten (natürlich Oestreich mit inbegriffen) lebhaft durchdrungen. Sein
Nebenbuhler Kara-Georg suchte diesen Umstand zu benutzen; als er 1817 aus
seinem östreichischen Exil in das Vaterland zurückkehrte, trug er sich mit


wohnten östreichischen und türkischen Länder unter das Scepter von Belgrad,
endlich eine auswärtige Politik, welche es auf nichts weniger als die gänzliche
Zertrümmerung des türkischen Reichs und die Befreiung aller unter türkischer
Botmäßigkeit stehenden Slaven absehen müsse. Was nach Erreichung dieses
Ziels geschehen sollte, darüber gingen die Meinungen der Parteigenossen
auseinander: die specifischen Großserben wünschten die Aufrechterhaltung des
serbischen Staats und eine Hegemonie desselben über die übrigen Donauslaven;
vorgeschrittener Elemente träumten von einer westslavischen Föderativ-Repu-
blik, welcher u. A. auch Ungarn angehören sollte, — die panslavistischen
Enrage"s meinten, der slavisch-russische Weltstaat der Zukunft sei berufen,
auch die Donauländer unter seine Fittige zu nehmen. Trotz dieser Meinungs¬
verschiedenheiten über die letzten Ziele waren alle Fraktionen der großen natio¬
nalen Partei darüber einig, daß Serbien an die Spitze der südslavischen
arti-türkischen Bewegung treten müsse und daß jede Politik, die eine Ver¬
ständigung mit den Regierungen von Constantinopel und Wien verfolge,
verrätherisch, unvolksthümlich und verwerflich sei.

Keiner der Fürsten, welche seit der Erhebung des alten Milosch an der
Spitze der serbischen Geschäfte standen, hat das von der Nationalpartei auf¬
gestellte Programm im Ernste zu dem seinigen gemacht; die Obrenowitsch
wie die Karageorgewitsch sind vor dem Wagestück zurückgebebt, die Existenz
des vorhandenen, mühsam errungenen Serbenstaats um panslavistischer
Zukunftsträume willen auf die Karte zu setzen. Milosch und dessen Nach¬
folger wußten zu genau, daß die von dem Volke gehoffte uneigennützige
Beihilfe Rußlands zur Erreichung der großserbischen Pläne eine Chimäre sei,
um im blinden Vertrauen auf dieselbe den Kampf gegen den Divan, Oest¬
reich und die Westmächte zu unternehmen; sie hatten eine zu klare Vorstellung
von der Tragweite des Unternehmens, welches ihnen zugemuthet wurde, um
eine specifisch-serbische Lösung der orientalischen Frage für möglich zu halten.
Dieselbe panslavistische Idee, an der die Massen sich erwärmten und begeisterten,
war den in der Wirklichkeit lebenden serbischen Staatsmännern ein gefürch-
tetes Gespenst, an welches sich peinliche Vorstellungen von Beseitigung der
herrschenden Dynastie, Auflösung des serbischen Staatsverbandes, Verkeilung
der einzelnen Bezirke desselben an die Nachbarprovinzen, oder aber Aufgehen
in das große russische Reich knüpften.

Schon der alte Milosch, in dessen Schule Garaschanin seine politische
Bildung erworben, war von der Nothwendigkeit einer Verständigung mit
der Türkei und einer vorsichtigen Mittelstellung zwischen Rußland und den
Westmächten (natürlich Oestreich mit inbegriffen) lebhaft durchdrungen. Sein
Nebenbuhler Kara-Georg suchte diesen Umstand zu benutzen; als er 1817 aus
seinem östreichischen Exil in das Vaterland zurückkehrte, trug er sich mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/446>, abgerufen am 15.01.2025.