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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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und gegenwärtig besitzt nur eine kleine Minderzahl erträgliche Sprechbildung.
Aber auch der besten Technik und guter Naturbegabung ist bei der Größe
der neuen Stadttheater eine unablässige Anstrengung nöthig, den Raum
durch die Stimme zu beleben, und diese Anstrengung macht viele feine Accente,
den lebendigen Wechsel des Tempos, eine völlig durchgearbeitete und mit dem
Charakter der Rolle erfüllte Rede fast unmöglich. Die Spannung der Sprech¬
werkzeuge und der lange Lauf der Schallwellen zwingen ein gewisses mitt¬
leres Tempo auf, sie setzen jede starke Stimme in Versuchung, durch gehobe¬
nen Ton. durch Schreien und Deklamiren die Effecte zu sichern. In unseren
Häusern vermag geschulte Stimme noch jede Rede deutlich zu machen, aber
es ist ein großer Unterschied, ob der Wortsinn von einem angestrengt Hören¬
den gerade noch gesaßt wird, oder ob er ihm leicht, mühelos und völlig in
die Seele gleitet, denn nur im letzteren Falle vermag das Wort zu erfassen
und fortzureißen. Aus diesen Gründen geschieht es, daß auch die besseren
unserer Schauspieler in den großen Häusern leicht schlecht sprechen und daß
die Zuschauer auch was sie verstehen, kalt aufnehmen. Die letzte Folge dieses
widerwärtigen Verhältnisses aber ist für junge Schauspieler der Verlust aller
feinen Redewirkungen, eine bestimmte eintönige Manier, bei welcher sie die
kräftigsten Klänge ihres Organs wohl oder übel zu verwerthen suchen.

Und wie die Rede, wird auch das Spiel in dem großen Raume ver¬
dorben. Auch hier muß Wirkung in die Ferne zur Hauptsache werden, die
bedeutsamen feinen Regungen der Mundmuskeln, ein schnelles Aufleuchten
im Auge, ein leichtes Regen der Hand, fast der ganze reizvolle, dem Leben
abgelauschte Apparat für wahrhafte Charakterdarstellung werden nur von
einem kleinen Theil des Publikums ersehen; was bleibt dem Schauspieler
übrig, als eine Uebertreibung, welche die Lustspielrolle ins Possenhafte, den
tragischen Charakter zum Poltron hinabzieht. Auch der geistreiche Künstler
wird verführt, durch allerlei klug erdachte Kunstmittel, durch unwahre Kunst¬
pausen, in denen er auf seine Effecte vorbereitet, durch eine besondere pikante
Färbung, welche er wider die Wahrheit den Charakteren auftüncht, oder durch
seltsame charakterisirende Zuthaten in Mimik und Costüm darüber zu ver¬
blenden, daß er für die maßvolleren Mittel und für ehrliche Erfindung all¬
zuweit vom Zuschauer getrennt wurde.

Diese Uebelstände schafft oder steigert der übergroße Zuschauerraum,
ähnliche die übergroße Bühne. Das moderne Theater schließt die darstellenden
Künstler durch einen viereckigen Rahmen ein, dessen Höhe und Länge ebenso
wie die wechselnde Tiefe des abgeschlossenen Bühnenraums nicht zufällig sind.")



") Auf vielen, auch kleineren Bühnen der Neuzeit ist die Höhe aus Rücksicht auf die
Galleriereihcn zu groß im Verhältniß zur Länge normirt worden.

und gegenwärtig besitzt nur eine kleine Minderzahl erträgliche Sprechbildung.
Aber auch der besten Technik und guter Naturbegabung ist bei der Größe
der neuen Stadttheater eine unablässige Anstrengung nöthig, den Raum
durch die Stimme zu beleben, und diese Anstrengung macht viele feine Accente,
den lebendigen Wechsel des Tempos, eine völlig durchgearbeitete und mit dem
Charakter der Rolle erfüllte Rede fast unmöglich. Die Spannung der Sprech¬
werkzeuge und der lange Lauf der Schallwellen zwingen ein gewisses mitt¬
leres Tempo auf, sie setzen jede starke Stimme in Versuchung, durch gehobe¬
nen Ton. durch Schreien und Deklamiren die Effecte zu sichern. In unseren
Häusern vermag geschulte Stimme noch jede Rede deutlich zu machen, aber
es ist ein großer Unterschied, ob der Wortsinn von einem angestrengt Hören¬
den gerade noch gesaßt wird, oder ob er ihm leicht, mühelos und völlig in
die Seele gleitet, denn nur im letzteren Falle vermag das Wort zu erfassen
und fortzureißen. Aus diesen Gründen geschieht es, daß auch die besseren
unserer Schauspieler in den großen Häusern leicht schlecht sprechen und daß
die Zuschauer auch was sie verstehen, kalt aufnehmen. Die letzte Folge dieses
widerwärtigen Verhältnisses aber ist für junge Schauspieler der Verlust aller
feinen Redewirkungen, eine bestimmte eintönige Manier, bei welcher sie die
kräftigsten Klänge ihres Organs wohl oder übel zu verwerthen suchen.

Und wie die Rede, wird auch das Spiel in dem großen Raume ver¬
dorben. Auch hier muß Wirkung in die Ferne zur Hauptsache werden, die
bedeutsamen feinen Regungen der Mundmuskeln, ein schnelles Aufleuchten
im Auge, ein leichtes Regen der Hand, fast der ganze reizvolle, dem Leben
abgelauschte Apparat für wahrhafte Charakterdarstellung werden nur von
einem kleinen Theil des Publikums ersehen; was bleibt dem Schauspieler
übrig, als eine Uebertreibung, welche die Lustspielrolle ins Possenhafte, den
tragischen Charakter zum Poltron hinabzieht. Auch der geistreiche Künstler
wird verführt, durch allerlei klug erdachte Kunstmittel, durch unwahre Kunst¬
pausen, in denen er auf seine Effecte vorbereitet, durch eine besondere pikante
Färbung, welche er wider die Wahrheit den Charakteren auftüncht, oder durch
seltsame charakterisirende Zuthaten in Mimik und Costüm darüber zu ver¬
blenden, daß er für die maßvolleren Mittel und für ehrliche Erfindung all¬
zuweit vom Zuschauer getrennt wurde.

Diese Uebelstände schafft oder steigert der übergroße Zuschauerraum,
ähnliche die übergroße Bühne. Das moderne Theater schließt die darstellenden
Künstler durch einen viereckigen Rahmen ein, dessen Höhe und Länge ebenso
wie die wechselnde Tiefe des abgeschlossenen Bühnenraums nicht zufällig sind.")



") Auf vielen, auch kleineren Bühnen der Neuzeit ist die Höhe aus Rücksicht auf die
Galleriereihcn zu groß im Verhältniß zur Länge normirt worden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/419>, abgerufen am 15.01.2025.