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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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terna tritt uns hier das Eigenthümliche entgegen, daß die specifische Ver¬
sammlung der englischen Aristocratie, das Haus der Lords, längst dem Ein¬
flüsse des Unterhauses unterlegen ist. Obgleich aus einem ganz anderen
Holz geschnitzt wie das preußische Herrenhaus, wie die Kammer der bairischen
Reichsrathe, der würtembergischen Standesherrn:c., besitzt es in der Gesetz¬
gebung nicht die Gewalt dieser Körperschaften' Seit der Reformaete übt es
thatsächlich nur die Functionen des Revidirens und Suspendirens aus.
Seine Gewalt ist in einem so sichtlichen Verfall begriffen, daß der Versasser
des vorliegenden Werkes von ihr sagt: "sie wird von Jahr zu Jahr abneh¬
men und zuletzt verschwunden sein, wie so viel von königlicher Gewalt ver¬
schwunden ist --niemand weiß, wohin." Stellt sich auf diese Weise die Bilanz
nicht zu Gunsten der aristocratischen Standesinteressen, so erweist sich andererseits
das feste Gefüge der englischen Staatsverfassung den democratischen Tendenzen der
Neuzeit ebensowenig zugänglich. Die allgemein acceptirte Forderung der moder¬
nen Democratie in Nepräsentativstaaten, die Herstellung des allgemeinen gleichen
und directen Wahlrechts bildet den schärfsten Gegensatz zu den Grundlagen
und vor allem zu dem exclusiver Geist des bestehenden Regierungssystems. In
der That ist die Schwierigkeit, zu reformiren und reformirend weiter zu bil¬
den, einer der ausgeprägtesten und vielleicht einer der derhängnißvollsten
Züge der englischen Verfassung. Von ihren wesentlichen Grundlagen gilt
beinahe das Wort: sive ut srmt aut von sint. Große Aenderungen in
den wirthschaftlichen Verhältnissen sind möglich gewesen, der Sieg, der in der
Korngesetzgebung erfochten wurde, war vielleicht das bemerkenswertheste Bei¬
spiel der Elasticität, deren die englische Gesetzgebung fähig ist, aber ganz an¬
ders verhält es sich, sobald es sich um die Frage handelt, ob die wesentlichen,
constitutiven Elemente der englischen Repräsentativverfassung einer bedeuten¬
den Aenderung fähig sind. Um hieraus zu antworten, müssen wir zunächst
untersuchen, was eine solche Aenderung für England bedeutet.

Der naturgemäße Entwickelungsgang in Staaten von modernem Gepräge
charakteristrt sich vor allem durch den gesteigerten Anspruch der emporstreben¬
den Classen der Gesellschaft auf ausgedehntere Antheilnahme an der poli¬
tischen Thätigkeit, die bisher von einer Minorität ausgeübt wurde. Dieses
Streben richtet sich vor Allem darauf, Sitz und Stimme als gleichberechtigter
Factor in dem gesetzgebenden Rath der Nation zu erlangen. In der Formel:
"gleiches Wahlrecht für Alle" gewinnt es seinen populärsten Ausdruck, es be¬
mächtigt sich des Volksbewußtseins und wird von diesem auf die Höhe einer
unumstößlichen Zeitforderung emporgehoben, der die bisher bevorrechteten
Classen ebensowenig wie die Regierungen einen nachhaltigen Widerstand zu
leisten im Stande sind. Ob man diese Erscheinung gut heißen oder bedauern
mag, die Thatsache liegt offen da, daß die oberste Forderung der Volkspar-


terna tritt uns hier das Eigenthümliche entgegen, daß die specifische Ver¬
sammlung der englischen Aristocratie, das Haus der Lords, längst dem Ein¬
flüsse des Unterhauses unterlegen ist. Obgleich aus einem ganz anderen
Holz geschnitzt wie das preußische Herrenhaus, wie die Kammer der bairischen
Reichsrathe, der würtembergischen Standesherrn:c., besitzt es in der Gesetz¬
gebung nicht die Gewalt dieser Körperschaften' Seit der Reformaete übt es
thatsächlich nur die Functionen des Revidirens und Suspendirens aus.
Seine Gewalt ist in einem so sichtlichen Verfall begriffen, daß der Versasser
des vorliegenden Werkes von ihr sagt: „sie wird von Jahr zu Jahr abneh¬
men und zuletzt verschwunden sein, wie so viel von königlicher Gewalt ver¬
schwunden ist —niemand weiß, wohin." Stellt sich auf diese Weise die Bilanz
nicht zu Gunsten der aristocratischen Standesinteressen, so erweist sich andererseits
das feste Gefüge der englischen Staatsverfassung den democratischen Tendenzen der
Neuzeit ebensowenig zugänglich. Die allgemein acceptirte Forderung der moder¬
nen Democratie in Nepräsentativstaaten, die Herstellung des allgemeinen gleichen
und directen Wahlrechts bildet den schärfsten Gegensatz zu den Grundlagen
und vor allem zu dem exclusiver Geist des bestehenden Regierungssystems. In
der That ist die Schwierigkeit, zu reformiren und reformirend weiter zu bil¬
den, einer der ausgeprägtesten und vielleicht einer der derhängnißvollsten
Züge der englischen Verfassung. Von ihren wesentlichen Grundlagen gilt
beinahe das Wort: sive ut srmt aut von sint. Große Aenderungen in
den wirthschaftlichen Verhältnissen sind möglich gewesen, der Sieg, der in der
Korngesetzgebung erfochten wurde, war vielleicht das bemerkenswertheste Bei¬
spiel der Elasticität, deren die englische Gesetzgebung fähig ist, aber ganz an¬
ders verhält es sich, sobald es sich um die Frage handelt, ob die wesentlichen,
constitutiven Elemente der englischen Repräsentativverfassung einer bedeuten¬
den Aenderung fähig sind. Um hieraus zu antworten, müssen wir zunächst
untersuchen, was eine solche Aenderung für England bedeutet.

Der naturgemäße Entwickelungsgang in Staaten von modernem Gepräge
charakteristrt sich vor allem durch den gesteigerten Anspruch der emporstreben¬
den Classen der Gesellschaft auf ausgedehntere Antheilnahme an der poli¬
tischen Thätigkeit, die bisher von einer Minorität ausgeübt wurde. Dieses
Streben richtet sich vor Allem darauf, Sitz und Stimme als gleichberechtigter
Factor in dem gesetzgebenden Rath der Nation zu erlangen. In der Formel:
„gleiches Wahlrecht für Alle" gewinnt es seinen populärsten Ausdruck, es be¬
mächtigt sich des Volksbewußtseins und wird von diesem auf die Höhe einer
unumstößlichen Zeitforderung emporgehoben, der die bisher bevorrechteten
Classen ebensowenig wie die Regierungen einen nachhaltigen Widerstand zu
leisten im Stande sind. Ob man diese Erscheinung gut heißen oder bedauern
mag, die Thatsache liegt offen da, daß die oberste Forderung der Volkspar-


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[0366] terna tritt uns hier das Eigenthümliche entgegen, daß die specifische Ver¬ sammlung der englischen Aristocratie, das Haus der Lords, längst dem Ein¬ flüsse des Unterhauses unterlegen ist. Obgleich aus einem ganz anderen Holz geschnitzt wie das preußische Herrenhaus, wie die Kammer der bairischen Reichsrathe, der würtembergischen Standesherrn:c., besitzt es in der Gesetz¬ gebung nicht die Gewalt dieser Körperschaften' Seit der Reformaete übt es thatsächlich nur die Functionen des Revidirens und Suspendirens aus. Seine Gewalt ist in einem so sichtlichen Verfall begriffen, daß der Versasser des vorliegenden Werkes von ihr sagt: „sie wird von Jahr zu Jahr abneh¬ men und zuletzt verschwunden sein, wie so viel von königlicher Gewalt ver¬ schwunden ist —niemand weiß, wohin." Stellt sich auf diese Weise die Bilanz nicht zu Gunsten der aristocratischen Standesinteressen, so erweist sich andererseits das feste Gefüge der englischen Staatsverfassung den democratischen Tendenzen der Neuzeit ebensowenig zugänglich. Die allgemein acceptirte Forderung der moder¬ nen Democratie in Nepräsentativstaaten, die Herstellung des allgemeinen gleichen und directen Wahlrechts bildet den schärfsten Gegensatz zu den Grundlagen und vor allem zu dem exclusiver Geist des bestehenden Regierungssystems. In der That ist die Schwierigkeit, zu reformiren und reformirend weiter zu bil¬ den, einer der ausgeprägtesten und vielleicht einer der derhängnißvollsten Züge der englischen Verfassung. Von ihren wesentlichen Grundlagen gilt beinahe das Wort: sive ut srmt aut von sint. Große Aenderungen in den wirthschaftlichen Verhältnissen sind möglich gewesen, der Sieg, der in der Korngesetzgebung erfochten wurde, war vielleicht das bemerkenswertheste Bei¬ spiel der Elasticität, deren die englische Gesetzgebung fähig ist, aber ganz an¬ ders verhält es sich, sobald es sich um die Frage handelt, ob die wesentlichen, constitutiven Elemente der englischen Repräsentativverfassung einer bedeuten¬ den Aenderung fähig sind. Um hieraus zu antworten, müssen wir zunächst untersuchen, was eine solche Aenderung für England bedeutet. Der naturgemäße Entwickelungsgang in Staaten von modernem Gepräge charakteristrt sich vor allem durch den gesteigerten Anspruch der emporstreben¬ den Classen der Gesellschaft auf ausgedehntere Antheilnahme an der poli¬ tischen Thätigkeit, die bisher von einer Minorität ausgeübt wurde. Dieses Streben richtet sich vor Allem darauf, Sitz und Stimme als gleichberechtigter Factor in dem gesetzgebenden Rath der Nation zu erlangen. In der Formel: „gleiches Wahlrecht für Alle" gewinnt es seinen populärsten Ausdruck, es be¬ mächtigt sich des Volksbewußtseins und wird von diesem auf die Höhe einer unumstößlichen Zeitforderung emporgehoben, der die bisher bevorrechteten Classen ebensowenig wie die Regierungen einen nachhaltigen Widerstand zu leisten im Stande sind. Ob man diese Erscheinung gut heißen oder bedauern mag, die Thatsache liegt offen da, daß die oberste Forderung der Volkspar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/366>, abgerufen am 15.01.2025.