Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Wahlaufruf der Fortschrittspartei -- wie die nationale Partei bei uns heißt
-- vom 22. December v. I. trägt noch die Spuren des vorhergegangenen
innern Kampfes und der Vorsicht deutlich an sich. Nach einer längeren
Besprechung der wirthschaftlichen Ziele des Zollparlamentes wendet sich das
Schlußwort in ziemlich abgeschwächter Weise zu der nationalen Aufgabe des
Parlaments. Vor allem war es das Auftreten der Gegner, welches dem
Wahlkampfe den entscheidenden Charakter gab.

Zu Anfang schienen alle Gegner der Fortschrittspartei darüber einig:
die Bedeutung der bevorstehenden Wahlen möglichst gering anzuschlagen, die
Bevölkerung in Gleichgültigkeit und Widerwillen gegen dieselben zu setzen
und alle nationalen Bestrebungen an der völligen Theilnahmlosigkeit der Mas¬
sen scheitern zu lassen: das bekannte Recept des "Todschweigens" sollte zur
Anwendung gebracht werden. Durch die Andeutung, man werde sich der
Wahl enthalten, gedachten die Gegner die Fortschrittspartei einzuschläfern.
Im entscheidenden Augenblicke hätte dann die Negierung nur nöthig gehabt,
die Wahlordres auszugeben und die gouvernementalen Candidaten wären
ohne namhaften Widerstand mit Hilfe der Beamten und Bürgermeister durch¬
gebracht worden. Die Fortschrittspartei aber wußte dieser Falle zu entgehen,
sie organisirte sich nach Kräften, ein Landesausschuß trat zusammen, man
bemühte sich, Bezirkscomites zu Stande zu bringen, Volksversammlungen
wurden abgehalten, Flugschriften vertheilt; die Theilnahme der Bevölkerung
war auf diese Weise bald geweckt und alle andern Parteien erkannten, daß
sie ins Feld rücken müßten, wenn die Fortschrittspartei dasselbe nicht behaup¬
ten sollte. Der erste Sieg, der über die Indifferenz der Massen und das
Todschweigsystem der Gegner, war von der nationalen Partei- glücklich errungen.

Die Lebenskraft derselben zeigte sich bald aber auch darin, daß in sämmt¬
lichen sechs Wahlbezirken bestimmte Parteiprogramme und bestimmte liberale
Candidaten aufgestellt wurden. Die Gegner mußten sich gleichfalls zusammen¬
schließen, um diese Candidaten gemeinsam zu bekämpfen- So erhielten die
Wahlen überall den Charakter eines Kampfes zwischen der Fortschrittspartei
und den Coalitionen der Gegner, die sich zwar nach dem bei ihnen durch¬
schlagenden Moment der ausschließlichen Fachmäßigkeit die Candidaten aus¬
gesucht hatten, nirgends aber eine einheitliche Masse darstellten. Auch die
Negierung war lediglich in die Defensive gedrängt, ihre Bewegungen wurden
von Berlin aus streng und eifersüchtig überwacht. Nichtsdestoweniger kann
sie sich rühmen, bei den Wahlen kein Mittel unversucht gelassen zu haben.
Unter den hessischen Wahlbezirken nimmt Mainz die erste Stelle ein. Mainz
ist zwar nicht die Hauptstadt, aber doch die erste Stadt des Landes. In
Mainz lagen alle Bedingungen für die verschiedenartigsten selbständigen
Parteibildungen reichlich vor; der Einfluß der Regierung ist verschwindend


Grenzboten II. 18K8. 4

Wahlaufruf der Fortschrittspartei — wie die nationale Partei bei uns heißt
— vom 22. December v. I. trägt noch die Spuren des vorhergegangenen
innern Kampfes und der Vorsicht deutlich an sich. Nach einer längeren
Besprechung der wirthschaftlichen Ziele des Zollparlamentes wendet sich das
Schlußwort in ziemlich abgeschwächter Weise zu der nationalen Aufgabe des
Parlaments. Vor allem war es das Auftreten der Gegner, welches dem
Wahlkampfe den entscheidenden Charakter gab.

Zu Anfang schienen alle Gegner der Fortschrittspartei darüber einig:
die Bedeutung der bevorstehenden Wahlen möglichst gering anzuschlagen, die
Bevölkerung in Gleichgültigkeit und Widerwillen gegen dieselben zu setzen
und alle nationalen Bestrebungen an der völligen Theilnahmlosigkeit der Mas¬
sen scheitern zu lassen: das bekannte Recept des „Todschweigens" sollte zur
Anwendung gebracht werden. Durch die Andeutung, man werde sich der
Wahl enthalten, gedachten die Gegner die Fortschrittspartei einzuschläfern.
Im entscheidenden Augenblicke hätte dann die Negierung nur nöthig gehabt,
die Wahlordres auszugeben und die gouvernementalen Candidaten wären
ohne namhaften Widerstand mit Hilfe der Beamten und Bürgermeister durch¬
gebracht worden. Die Fortschrittspartei aber wußte dieser Falle zu entgehen,
sie organisirte sich nach Kräften, ein Landesausschuß trat zusammen, man
bemühte sich, Bezirkscomites zu Stande zu bringen, Volksversammlungen
wurden abgehalten, Flugschriften vertheilt; die Theilnahme der Bevölkerung
war auf diese Weise bald geweckt und alle andern Parteien erkannten, daß
sie ins Feld rücken müßten, wenn die Fortschrittspartei dasselbe nicht behaup¬
ten sollte. Der erste Sieg, der über die Indifferenz der Massen und das
Todschweigsystem der Gegner, war von der nationalen Partei- glücklich errungen.

Die Lebenskraft derselben zeigte sich bald aber auch darin, daß in sämmt¬
lichen sechs Wahlbezirken bestimmte Parteiprogramme und bestimmte liberale
Candidaten aufgestellt wurden. Die Gegner mußten sich gleichfalls zusammen¬
schließen, um diese Candidaten gemeinsam zu bekämpfen- So erhielten die
Wahlen überall den Charakter eines Kampfes zwischen der Fortschrittspartei
und den Coalitionen der Gegner, die sich zwar nach dem bei ihnen durch¬
schlagenden Moment der ausschließlichen Fachmäßigkeit die Candidaten aus¬
gesucht hatten, nirgends aber eine einheitliche Masse darstellten. Auch die
Negierung war lediglich in die Defensive gedrängt, ihre Bewegungen wurden
von Berlin aus streng und eifersüchtig überwacht. Nichtsdestoweniger kann
sie sich rühmen, bei den Wahlen kein Mittel unversucht gelassen zu haben.
Unter den hessischen Wahlbezirken nimmt Mainz die erste Stelle ein. Mainz
ist zwar nicht die Hauptstadt, aber doch die erste Stadt des Landes. In
Mainz lagen alle Bedingungen für die verschiedenartigsten selbständigen
Parteibildungen reichlich vor; der Einfluß der Regierung ist verschwindend


Grenzboten II. 18K8. 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117561"/>
          <p xml:id="ID_101" prev="#ID_100"> Wahlaufruf der Fortschrittspartei &#x2014; wie die nationale Partei bei uns heißt<lb/>
&#x2014; vom 22. December v. I. trägt noch die Spuren des vorhergegangenen<lb/>
innern Kampfes und der Vorsicht deutlich an sich. Nach einer längeren<lb/>
Besprechung der wirthschaftlichen Ziele des Zollparlamentes wendet sich das<lb/>
Schlußwort in ziemlich abgeschwächter Weise zu der nationalen Aufgabe des<lb/>
Parlaments. Vor allem war es das Auftreten der Gegner, welches dem<lb/>
Wahlkampfe den entscheidenden Charakter gab.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_102"> Zu Anfang schienen alle Gegner der Fortschrittspartei darüber einig:<lb/>
die Bedeutung der bevorstehenden Wahlen möglichst gering anzuschlagen, die<lb/>
Bevölkerung in Gleichgültigkeit und Widerwillen gegen dieselben zu setzen<lb/>
und alle nationalen Bestrebungen an der völligen Theilnahmlosigkeit der Mas¬<lb/>
sen scheitern zu lassen: das bekannte Recept des &#x201E;Todschweigens" sollte zur<lb/>
Anwendung gebracht werden. Durch die Andeutung, man werde sich der<lb/>
Wahl enthalten, gedachten die Gegner die Fortschrittspartei einzuschläfern.<lb/>
Im entscheidenden Augenblicke hätte dann die Negierung nur nöthig gehabt,<lb/>
die Wahlordres auszugeben und die gouvernementalen Candidaten wären<lb/>
ohne namhaften Widerstand mit Hilfe der Beamten und Bürgermeister durch¬<lb/>
gebracht worden. Die Fortschrittspartei aber wußte dieser Falle zu entgehen,<lb/>
sie organisirte sich nach Kräften, ein Landesausschuß trat zusammen, man<lb/>
bemühte sich, Bezirkscomites zu Stande zu bringen, Volksversammlungen<lb/>
wurden abgehalten, Flugschriften vertheilt; die Theilnahme der Bevölkerung<lb/>
war auf diese Weise bald geweckt und alle andern Parteien erkannten, daß<lb/>
sie ins Feld rücken müßten, wenn die Fortschrittspartei dasselbe nicht behaup¬<lb/>
ten sollte. Der erste Sieg, der über die Indifferenz der Massen und das<lb/>
Todschweigsystem der Gegner, war von der nationalen Partei- glücklich errungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_103" next="#ID_104"> Die Lebenskraft derselben zeigte sich bald aber auch darin, daß in sämmt¬<lb/>
lichen sechs Wahlbezirken bestimmte Parteiprogramme und bestimmte liberale<lb/>
Candidaten aufgestellt wurden. Die Gegner mußten sich gleichfalls zusammen¬<lb/>
schließen, um diese Candidaten gemeinsam zu bekämpfen- So erhielten die<lb/>
Wahlen überall den Charakter eines Kampfes zwischen der Fortschrittspartei<lb/>
und den Coalitionen der Gegner, die sich zwar nach dem bei ihnen durch¬<lb/>
schlagenden Moment der ausschließlichen Fachmäßigkeit die Candidaten aus¬<lb/>
gesucht hatten, nirgends aber eine einheitliche Masse darstellten. Auch die<lb/>
Negierung war lediglich in die Defensive gedrängt, ihre Bewegungen wurden<lb/>
von Berlin aus streng und eifersüchtig überwacht. Nichtsdestoweniger kann<lb/>
sie sich rühmen, bei den Wahlen kein Mittel unversucht gelassen zu haben.<lb/>
Unter den hessischen Wahlbezirken nimmt Mainz die erste Stelle ein. Mainz<lb/>
ist zwar nicht die Hauptstadt, aber doch die erste Stadt des Landes. In<lb/>
Mainz lagen alle Bedingungen für die verschiedenartigsten selbständigen<lb/>
Parteibildungen reichlich vor; der Einfluß der Regierung ist verschwindend</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 18K8. 4</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] Wahlaufruf der Fortschrittspartei — wie die nationale Partei bei uns heißt — vom 22. December v. I. trägt noch die Spuren des vorhergegangenen innern Kampfes und der Vorsicht deutlich an sich. Nach einer längeren Besprechung der wirthschaftlichen Ziele des Zollparlamentes wendet sich das Schlußwort in ziemlich abgeschwächter Weise zu der nationalen Aufgabe des Parlaments. Vor allem war es das Auftreten der Gegner, welches dem Wahlkampfe den entscheidenden Charakter gab. Zu Anfang schienen alle Gegner der Fortschrittspartei darüber einig: die Bedeutung der bevorstehenden Wahlen möglichst gering anzuschlagen, die Bevölkerung in Gleichgültigkeit und Widerwillen gegen dieselben zu setzen und alle nationalen Bestrebungen an der völligen Theilnahmlosigkeit der Mas¬ sen scheitern zu lassen: das bekannte Recept des „Todschweigens" sollte zur Anwendung gebracht werden. Durch die Andeutung, man werde sich der Wahl enthalten, gedachten die Gegner die Fortschrittspartei einzuschläfern. Im entscheidenden Augenblicke hätte dann die Negierung nur nöthig gehabt, die Wahlordres auszugeben und die gouvernementalen Candidaten wären ohne namhaften Widerstand mit Hilfe der Beamten und Bürgermeister durch¬ gebracht worden. Die Fortschrittspartei aber wußte dieser Falle zu entgehen, sie organisirte sich nach Kräften, ein Landesausschuß trat zusammen, man bemühte sich, Bezirkscomites zu Stande zu bringen, Volksversammlungen wurden abgehalten, Flugschriften vertheilt; die Theilnahme der Bevölkerung war auf diese Weise bald geweckt und alle andern Parteien erkannten, daß sie ins Feld rücken müßten, wenn die Fortschrittspartei dasselbe nicht behaup¬ ten sollte. Der erste Sieg, der über die Indifferenz der Massen und das Todschweigsystem der Gegner, war von der nationalen Partei- glücklich errungen. Die Lebenskraft derselben zeigte sich bald aber auch darin, daß in sämmt¬ lichen sechs Wahlbezirken bestimmte Parteiprogramme und bestimmte liberale Candidaten aufgestellt wurden. Die Gegner mußten sich gleichfalls zusammen¬ schließen, um diese Candidaten gemeinsam zu bekämpfen- So erhielten die Wahlen überall den Charakter eines Kampfes zwischen der Fortschrittspartei und den Coalitionen der Gegner, die sich zwar nach dem bei ihnen durch¬ schlagenden Moment der ausschließlichen Fachmäßigkeit die Candidaten aus¬ gesucht hatten, nirgends aber eine einheitliche Masse darstellten. Auch die Negierung war lediglich in die Defensive gedrängt, ihre Bewegungen wurden von Berlin aus streng und eifersüchtig überwacht. Nichtsdestoweniger kann sie sich rühmen, bei den Wahlen kein Mittel unversucht gelassen zu haben. Unter den hessischen Wahlbezirken nimmt Mainz die erste Stelle ein. Mainz ist zwar nicht die Hauptstadt, aber doch die erste Stadt des Landes. In Mainz lagen alle Bedingungen für die verschiedenartigsten selbständigen Parteibildungen reichlich vor; der Einfluß der Regierung ist verschwindend Grenzboten II. 18K8. 4

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/29
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/29>, abgerufen am 15.01.2025.