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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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früher jede nationale Schranke als Vorurtheil verspottet hatte. Litwinotv,
der Held des Romanes, lernt in Baden-Baden Aristocraten und Demokraten
seines ihm entfremdeten Vaterlandes kennen. Nachdem der Dichter seinen
Helden ebenso mit den Vertretern der jungen Democratie wie mit den grol¬
lenden Hofaristocraten des ancien rogiius bekannt gemacht hat, zeigt er, daß
weder die einen noch die andern irgend welche sittliche Fortschritte seit früher
gemacht hätten. Nur die Phrasen hätten sich verändert, die unselbständigen
halt- und sittenlosen Menschen seien dieselben geblieben. Wie sie früher die
Stichworte des Absolutismus nachgesprochen und mit den Brocken groß ge¬
than, welche von der Tafel der vornehmen Gesellschaft zu ihnen herabgefallen,
so sprächen sie jetzt democratische und auf das Nationalitätsprinzip gegründete
Floskeln nach, ohne an den thatsächlichen Verhältnissen das geringste zu än¬
dern. "Die Regierung hat die Leibeigenschaft aufgehoben, uns aber ist die
Gewohnheit der Knechtschaft so in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir
uns irgend einen Herrn suchen und von diesem tyrannisiren lassen müssen.
In der Regel wird der, welcher die Fuchtel am besten zu führen weiß, bei
uns zum Korporal gemacht.--Der Götze, vor dem wir uns jetzt beugen,
ist der nationale Bauernrock, von ihm erwarten wir das Heil. Nächstens
ist es wieder ein anderer Götze, und nach ächter Sclavenweise speien wir dann
auf den, den wir noch kurz zuvor vergötterten."

Nicht besser wie die vom Dämon des Nationaldünkels besessene Jugend,
kommt die Hof- und Militäraristocratie, die von "intelligenten" vielversprechen¬
den "jungen Generalen" beherrschte Welt der conservativen Redensarten weg.
Der Dichter zeigt uns, daß auch sie wesentlich die alte geblieben und trotz
ihrer Verstimmung über die abnehmende Bedeutung des Adels nicht einmal
im Stande gewesen, es zu einer Fronde zu bringen. Was er hüben und
drüben in gleicher Weise vermißt, ist der sittliche Ernst, die Vertiefung und
Hingabe an die Zwecke, denen man nachzugehen glaubt. Allenthalben sieht
er nur das Bestreben, die Mode mitzumachen, durch das nachsprechen der
jedesmaligen Stichworte eine Rolle zu spielen. "Der Wind schlägt um",
und dieselben Leute, welche gestern mit Herzen und Bakunin für Verbrüde¬
rung aller freien Völker schwärmten, jauchzen heute Katkow zu, der die Ver¬
nichtung aller Polen und Deutschen predigt -- morgen kehren sie vielleicht
zu dem verlassenen Cultus des alten Stillstandssystems, zur Verherrlichung
der omnipotenten Bureaucratie und des Tschins, vielleicht gar der Leibeigen¬
schaft zurück. Das schließliche Resultat ist wiederum der Zweifel an einem
heilsamen Ausgang dessen, was begonnen worden: die Emancipation des
Bauernstandes, die Reform der Justiz und der Verwaltung sind wichtige
Fortschritte -- minder angeblichen Wiedergeburt des russischen Lebens, der


früher jede nationale Schranke als Vorurtheil verspottet hatte. Litwinotv,
der Held des Romanes, lernt in Baden-Baden Aristocraten und Demokraten
seines ihm entfremdeten Vaterlandes kennen. Nachdem der Dichter seinen
Helden ebenso mit den Vertretern der jungen Democratie wie mit den grol¬
lenden Hofaristocraten des ancien rogiius bekannt gemacht hat, zeigt er, daß
weder die einen noch die andern irgend welche sittliche Fortschritte seit früher
gemacht hätten. Nur die Phrasen hätten sich verändert, die unselbständigen
halt- und sittenlosen Menschen seien dieselben geblieben. Wie sie früher die
Stichworte des Absolutismus nachgesprochen und mit den Brocken groß ge¬
than, welche von der Tafel der vornehmen Gesellschaft zu ihnen herabgefallen,
so sprächen sie jetzt democratische und auf das Nationalitätsprinzip gegründete
Floskeln nach, ohne an den thatsächlichen Verhältnissen das geringste zu än¬
dern. „Die Regierung hat die Leibeigenschaft aufgehoben, uns aber ist die
Gewohnheit der Knechtschaft so in Fleisch und Blut übergegangen, daß wir
uns irgend einen Herrn suchen und von diesem tyrannisiren lassen müssen.
In der Regel wird der, welcher die Fuchtel am besten zu führen weiß, bei
uns zum Korporal gemacht.--Der Götze, vor dem wir uns jetzt beugen,
ist der nationale Bauernrock, von ihm erwarten wir das Heil. Nächstens
ist es wieder ein anderer Götze, und nach ächter Sclavenweise speien wir dann
auf den, den wir noch kurz zuvor vergötterten."

Nicht besser wie die vom Dämon des Nationaldünkels besessene Jugend,
kommt die Hof- und Militäraristocratie, die von „intelligenten" vielversprechen¬
den „jungen Generalen" beherrschte Welt der conservativen Redensarten weg.
Der Dichter zeigt uns, daß auch sie wesentlich die alte geblieben und trotz
ihrer Verstimmung über die abnehmende Bedeutung des Adels nicht einmal
im Stande gewesen, es zu einer Fronde zu bringen. Was er hüben und
drüben in gleicher Weise vermißt, ist der sittliche Ernst, die Vertiefung und
Hingabe an die Zwecke, denen man nachzugehen glaubt. Allenthalben sieht
er nur das Bestreben, die Mode mitzumachen, durch das nachsprechen der
jedesmaligen Stichworte eine Rolle zu spielen. „Der Wind schlägt um",
und dieselben Leute, welche gestern mit Herzen und Bakunin für Verbrüde¬
rung aller freien Völker schwärmten, jauchzen heute Katkow zu, der die Ver¬
nichtung aller Polen und Deutschen predigt — morgen kehren sie vielleicht
zu dem verlassenen Cultus des alten Stillstandssystems, zur Verherrlichung
der omnipotenten Bureaucratie und des Tschins, vielleicht gar der Leibeigen¬
schaft zurück. Das schließliche Resultat ist wiederum der Zweifel an einem
heilsamen Ausgang dessen, was begonnen worden: die Emancipation des
Bauernstandes, die Reform der Justiz und der Verwaltung sind wichtige
Fortschritte — minder angeblichen Wiedergeburt des russischen Lebens, der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/260>, abgerufen am 15.01.2025.