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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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den Eindruck der Rohheit und Gemeinheit empfangen, wo andere ein
bloßes Ueberquellen jugendlicher Kraft zu sehen glaubten und denselben
Ausreden eine neue Anwendung und Deutung zu geben wußten, mit denen
sie sich wenige Jahre früher über die Misere des alten Zustandes getröstet
hatten.

Ziemlich gleichzeitig mit den "Vätern und Söhnen" erschien die phan¬
tastische Skizze "Visionen". Wie tief die widerwärtigen Eindrücke, welche
Turgenjew von der Berührung mit den jungrussischen Nihilisten empfangen,
des Dichters reinen Sinn verletzt hatten, das geht aus dieser Federzeichnung
noch deutlicher hervor als aus dem genannten Roman. Sein Genius führt
ihn. wie weiland Mephisto den Doctor Faust, auf einem Zaubermantel über
die Erde. Sein Blick fällt in einer mondhellen Sommernacht auf die Straßen
Petersburgs. Am offenen Fenster liegt in verwilderten Aufzug eine junge
Nihilistin, welche beim Dampf ihrer Papiercigarre ein cynisches Erzeugniß
der neuesten Literatur liest, während ein Haufen trunkener Jünglinge tobend
durch die öden Straßen zieht! Das war im wesentlichen der Eindruck, den er
von der neuen Aera empfangen hatte.

Turgenjew's neuestes Buch, der zu Mitau in deutscher Uebersetzung erschie¬
nene Roman, "Rauch" steht inhaltlich den "Vätern und Söhnen" am nächsten;
nur daß er eine spätere Phase der modernen russischen Geisterbewegung zum
Gegenstande hat und des Dichters letztes Wort über die gesammte neue Aera
stärker und entschiedener ausspricht als irgend ein anderes seiner Bücher.
"Alles Russische ist Rauch, Rauch und Dunst, nichts weiter. Unaufhörlich
ist alles in der Umgestaltung begriffen, immer neue Nebelbilder tauchen auf,
eine Erscheinung jagt die andere und in Wahrheit bleibt doch alles wie es
war. Alles drängt und stürmt irgend wohin und zerstiebt ohne eine Spur
von sich zu hinterlassen, ohne irgend etwas erreicht zu haben. Ein anderer
Wind erhebt sich, und alles nimmt eine andere Richtung, es schlägt in das
Gegentheil über, um dasselbe inhalts- und wesenlose Schattenspiel zu be¬
ginnen. Rauch und Dunst, nichts weiter!"

Wie das Buch "Väter und Söhne" gegen den jungrussischen Radicalismus
gerichtet war, der in den Jahren nach Aufhebung der Leibeigenschaft
sein Wesen trieb, so hat der "Rauch" es mit dem exclustven Nationalitäts-
Schwindel, dem blinden Haß gegen alle westeuropäische Cultur zu thun,
welcher seit Niederschlagung des polnischen Aufstandes die russischen Köpfe
und Herzen beherrschte. Hatte man vorher mit einer Verherrlichung kosmo-
politisch-democratischer Ungeheuerlichkeiten Götzendienst getrieben, so huldigte
Man jetzt einem Fanatismus, dessen rücksichtslose Brutalität und Ausschlie߬
lichkeit in directem Gegensatz zu jener Freiheitsliebe stand, die wenige Jahre


den Eindruck der Rohheit und Gemeinheit empfangen, wo andere ein
bloßes Ueberquellen jugendlicher Kraft zu sehen glaubten und denselben
Ausreden eine neue Anwendung und Deutung zu geben wußten, mit denen
sie sich wenige Jahre früher über die Misere des alten Zustandes getröstet
hatten.

Ziemlich gleichzeitig mit den „Vätern und Söhnen" erschien die phan¬
tastische Skizze „Visionen". Wie tief die widerwärtigen Eindrücke, welche
Turgenjew von der Berührung mit den jungrussischen Nihilisten empfangen,
des Dichters reinen Sinn verletzt hatten, das geht aus dieser Federzeichnung
noch deutlicher hervor als aus dem genannten Roman. Sein Genius führt
ihn. wie weiland Mephisto den Doctor Faust, auf einem Zaubermantel über
die Erde. Sein Blick fällt in einer mondhellen Sommernacht auf die Straßen
Petersburgs. Am offenen Fenster liegt in verwilderten Aufzug eine junge
Nihilistin, welche beim Dampf ihrer Papiercigarre ein cynisches Erzeugniß
der neuesten Literatur liest, während ein Haufen trunkener Jünglinge tobend
durch die öden Straßen zieht! Das war im wesentlichen der Eindruck, den er
von der neuen Aera empfangen hatte.

Turgenjew's neuestes Buch, der zu Mitau in deutscher Uebersetzung erschie¬
nene Roman, „Rauch" steht inhaltlich den „Vätern und Söhnen" am nächsten;
nur daß er eine spätere Phase der modernen russischen Geisterbewegung zum
Gegenstande hat und des Dichters letztes Wort über die gesammte neue Aera
stärker und entschiedener ausspricht als irgend ein anderes seiner Bücher.
„Alles Russische ist Rauch, Rauch und Dunst, nichts weiter. Unaufhörlich
ist alles in der Umgestaltung begriffen, immer neue Nebelbilder tauchen auf,
eine Erscheinung jagt die andere und in Wahrheit bleibt doch alles wie es
war. Alles drängt und stürmt irgend wohin und zerstiebt ohne eine Spur
von sich zu hinterlassen, ohne irgend etwas erreicht zu haben. Ein anderer
Wind erhebt sich, und alles nimmt eine andere Richtung, es schlägt in das
Gegentheil über, um dasselbe inhalts- und wesenlose Schattenspiel zu be¬
ginnen. Rauch und Dunst, nichts weiter!"

Wie das Buch „Väter und Söhne" gegen den jungrussischen Radicalismus
gerichtet war, der in den Jahren nach Aufhebung der Leibeigenschaft
sein Wesen trieb, so hat der „Rauch" es mit dem exclustven Nationalitäts-
Schwindel, dem blinden Haß gegen alle westeuropäische Cultur zu thun,
welcher seit Niederschlagung des polnischen Aufstandes die russischen Köpfe
und Herzen beherrschte. Hatte man vorher mit einer Verherrlichung kosmo-
politisch-democratischer Ungeheuerlichkeiten Götzendienst getrieben, so huldigte
Man jetzt einem Fanatismus, dessen rücksichtslose Brutalität und Ausschlie߬
lichkeit in directem Gegensatz zu jener Freiheitsliebe stand, die wenige Jahre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/259>, abgerufen am 15.01.2025.