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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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öffentlichen Angelegenheiten Theil, jede Fraction suchte die andere an radi¬
kaler Kühnheit zu, überbieten: in dem Streben, die alte Welt in Trümmer
zu schlagen, wußte sich alles einig. Der Reformeifer der Regierung genügte
bald nicht mehr, die Revolution brauste heran, kein Stein sollte auf dem
andern bleiben, alles Bestehende vertilgt werden. Schon brannten die Pa¬
läste Petersburgs und flogen unheimliche Flugblätter über die sarmatische
Ebene, um das ganze Volk in den Bund wilder Verschwörer gegen die alte
Weltordnung zu ziehen.

Turgenjew hatte an den Kämpfen und Bestrebungen des russischen Li¬
beralismus ehrlich Theil genommen, die Aufhebung der Leibeigenschaft be¬
geistert und dankbar gefeiert. Aber seine ächte Dichternatur bewahrte ihn
davor, in den wilden Taumel der russischen Demagogen- und Demokraten¬
wirthschaft fortgerissen zu werden, welche in den I. 1839--1863 ihr Wesen
trieb. Das rohe Geschrei jener pietätslosen fügend, die in wahnwitzigen
Hochmuth alles, was die bisherige Welt an Schätzen der Kunst und Wissen-
schaft hervorgebracht, verachtete und der Vernichtung Preis geben wollte,
konnte seine Seele nur mit Ekel und Widerwillen erfüllen. Den freisinnigen
Künstler mußte die vandalische Roheit dieses Gebahrens ebenso verletzen, wie
weiland der Despotismus der Aristokraten und die Aufgeblasenheit der leeren,
knechtischen Bureaukratie. Während rings um ihn alles den neuen Götzen
huldigte und sich in radicalen Extravaganzen überbot, schrieb er den mehr¬
bändigen Roman "Väter und Söhne" (0t^ i <ZM). Diese ergreifende Schil¬
derung der frechen Jugend, welche den f. g. Nihilismus repräsentirte, war
zugleich die kühnste Herausforderung der Gewalten, welche zeitweise die
öffentliche Meinung beherrschten und tyrannisirten. Unbarmherzig wurde die
verbrecherische Thorheit des jungen Geschlechts gegeißelt, welches alle Heilig-
thümer der Vergangenheit mit Füßen trat, jeden Idealismus als krank¬
haften Wahn aus dem Leben verscheuchen wollte, jede Autorität, mochte sie
religiöser, künstlerischer, oder wissenschaftlicher Art sein, als solche verhöhnte
und ihre Aufgabe darin sah. "alles zu negiren und zu verspotten und Frösche
zu seciren." Wiederum wurde der Dichter des Pessimismus, der bedingungs¬
losen Verurtheilung vielversprechender Erscheinungen russischen Lebens, und
-- was 1862 und 1863 am schwersten wog -- reactionärer Feindschaft gegen
die Zeitideen angeklagt. Und er hatte doch nur die Pflicht geübt, die ihm
seine Muse auferlegte -- die Angeklagten hatten zu verantworten, daß der
Dichter zu ihrem Ankläger geworden. Seine ganze künstlerische und im besten
Sinne aristokratische Natur hatte ihn zu einem Protest' gegen den Ein¬
bruch einer neuen Barbarei getrieben, er hatte sich zu den idealen Gütern
der Menschheit bekennen müssen, als dieses Bekenntniß für ein Zeichen knech¬
tischen Sinnes und blöder Zurückgebliebenheit galt. Er hatte als Dichter


öffentlichen Angelegenheiten Theil, jede Fraction suchte die andere an radi¬
kaler Kühnheit zu, überbieten: in dem Streben, die alte Welt in Trümmer
zu schlagen, wußte sich alles einig. Der Reformeifer der Regierung genügte
bald nicht mehr, die Revolution brauste heran, kein Stein sollte auf dem
andern bleiben, alles Bestehende vertilgt werden. Schon brannten die Pa¬
läste Petersburgs und flogen unheimliche Flugblätter über die sarmatische
Ebene, um das ganze Volk in den Bund wilder Verschwörer gegen die alte
Weltordnung zu ziehen.

Turgenjew hatte an den Kämpfen und Bestrebungen des russischen Li¬
beralismus ehrlich Theil genommen, die Aufhebung der Leibeigenschaft be¬
geistert und dankbar gefeiert. Aber seine ächte Dichternatur bewahrte ihn
davor, in den wilden Taumel der russischen Demagogen- und Demokraten¬
wirthschaft fortgerissen zu werden, welche in den I. 1839—1863 ihr Wesen
trieb. Das rohe Geschrei jener pietätslosen fügend, die in wahnwitzigen
Hochmuth alles, was die bisherige Welt an Schätzen der Kunst und Wissen-
schaft hervorgebracht, verachtete und der Vernichtung Preis geben wollte,
konnte seine Seele nur mit Ekel und Widerwillen erfüllen. Den freisinnigen
Künstler mußte die vandalische Roheit dieses Gebahrens ebenso verletzen, wie
weiland der Despotismus der Aristokraten und die Aufgeblasenheit der leeren,
knechtischen Bureaukratie. Während rings um ihn alles den neuen Götzen
huldigte und sich in radicalen Extravaganzen überbot, schrieb er den mehr¬
bändigen Roman „Väter und Söhne" (0t^ i <ZM). Diese ergreifende Schil¬
derung der frechen Jugend, welche den f. g. Nihilismus repräsentirte, war
zugleich die kühnste Herausforderung der Gewalten, welche zeitweise die
öffentliche Meinung beherrschten und tyrannisirten. Unbarmherzig wurde die
verbrecherische Thorheit des jungen Geschlechts gegeißelt, welches alle Heilig-
thümer der Vergangenheit mit Füßen trat, jeden Idealismus als krank¬
haften Wahn aus dem Leben verscheuchen wollte, jede Autorität, mochte sie
religiöser, künstlerischer, oder wissenschaftlicher Art sein, als solche verhöhnte
und ihre Aufgabe darin sah. „alles zu negiren und zu verspotten und Frösche
zu seciren." Wiederum wurde der Dichter des Pessimismus, der bedingungs¬
losen Verurtheilung vielversprechender Erscheinungen russischen Lebens, und
— was 1862 und 1863 am schwersten wog — reactionärer Feindschaft gegen
die Zeitideen angeklagt. Und er hatte doch nur die Pflicht geübt, die ihm
seine Muse auferlegte — die Angeklagten hatten zu verantworten, daß der
Dichter zu ihrem Ankläger geworden. Seine ganze künstlerische und im besten
Sinne aristokratische Natur hatte ihn zu einem Protest' gegen den Ein¬
bruch einer neuen Barbarei getrieben, er hatte sich zu den idealen Gütern
der Menschheit bekennen müssen, als dieses Bekenntniß für ein Zeichen knech¬
tischen Sinnes und blöder Zurückgebliebenheit galt. Er hatte als Dichter


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[0258] öffentlichen Angelegenheiten Theil, jede Fraction suchte die andere an radi¬ kaler Kühnheit zu, überbieten: in dem Streben, die alte Welt in Trümmer zu schlagen, wußte sich alles einig. Der Reformeifer der Regierung genügte bald nicht mehr, die Revolution brauste heran, kein Stein sollte auf dem andern bleiben, alles Bestehende vertilgt werden. Schon brannten die Pa¬ läste Petersburgs und flogen unheimliche Flugblätter über die sarmatische Ebene, um das ganze Volk in den Bund wilder Verschwörer gegen die alte Weltordnung zu ziehen. Turgenjew hatte an den Kämpfen und Bestrebungen des russischen Li¬ beralismus ehrlich Theil genommen, die Aufhebung der Leibeigenschaft be¬ geistert und dankbar gefeiert. Aber seine ächte Dichternatur bewahrte ihn davor, in den wilden Taumel der russischen Demagogen- und Demokraten¬ wirthschaft fortgerissen zu werden, welche in den I. 1839—1863 ihr Wesen trieb. Das rohe Geschrei jener pietätslosen fügend, die in wahnwitzigen Hochmuth alles, was die bisherige Welt an Schätzen der Kunst und Wissen- schaft hervorgebracht, verachtete und der Vernichtung Preis geben wollte, konnte seine Seele nur mit Ekel und Widerwillen erfüllen. Den freisinnigen Künstler mußte die vandalische Roheit dieses Gebahrens ebenso verletzen, wie weiland der Despotismus der Aristokraten und die Aufgeblasenheit der leeren, knechtischen Bureaukratie. Während rings um ihn alles den neuen Götzen huldigte und sich in radicalen Extravaganzen überbot, schrieb er den mehr¬ bändigen Roman „Väter und Söhne" (0t^ i <ZM). Diese ergreifende Schil¬ derung der frechen Jugend, welche den f. g. Nihilismus repräsentirte, war zugleich die kühnste Herausforderung der Gewalten, welche zeitweise die öffentliche Meinung beherrschten und tyrannisirten. Unbarmherzig wurde die verbrecherische Thorheit des jungen Geschlechts gegeißelt, welches alle Heilig- thümer der Vergangenheit mit Füßen trat, jeden Idealismus als krank¬ haften Wahn aus dem Leben verscheuchen wollte, jede Autorität, mochte sie religiöser, künstlerischer, oder wissenschaftlicher Art sein, als solche verhöhnte und ihre Aufgabe darin sah. „alles zu negiren und zu verspotten und Frösche zu seciren." Wiederum wurde der Dichter des Pessimismus, der bedingungs¬ losen Verurtheilung vielversprechender Erscheinungen russischen Lebens, und — was 1862 und 1863 am schwersten wog — reactionärer Feindschaft gegen die Zeitideen angeklagt. Und er hatte doch nur die Pflicht geübt, die ihm seine Muse auferlegte — die Angeklagten hatten zu verantworten, daß der Dichter zu ihrem Ankläger geworden. Seine ganze künstlerische und im besten Sinne aristokratische Natur hatte ihn zu einem Protest' gegen den Ein¬ bruch einer neuen Barbarei getrieben, er hatte sich zu den idealen Gütern der Menschheit bekennen müssen, als dieses Bekenntniß für ein Zeichen knech¬ tischen Sinnes und blöder Zurückgebliebenheit galt. Er hatte als Dichter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/258>, abgerufen am 15.01.2025.