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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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vom Abfall der vornehmen Welt nähren und nichts nach dem Volk fragen,
oder aber unglückliche verfehlte Existenzen, die durch die feinere Bildung,
welche sie erworben, ihrer Umgebung entfremdet sind und nicht wissen, was
sie mit den höheren Gütern, welche sie in der Fremde erworben, anfangen
sollen, weil es außerhalb der Sclaverei des Staatsdienstes keinen Spielraum
für gebildete Thätigkeit gibt. Ueber dem eigentlichen Volk liegt die Leib¬
eigenschaft wie ein dunkler, gespenstischer Schleier, der jedes fröhliche Auf¬
streben, jede gesunde Kraftentfaltung niederhält und im Keim erstickt. Der
Verfasser selbst erscheint als versprengter Culturapostel, der sich trotz seiner
warmen Liebe zur Heimath in derselben nicht zurechtfinden kann und ein
Fremdling bleibt. Und doch verräth sich nirgend eine Absicht, die die Ur¬
sprünglichkeit der gewonnenen poetischen Eindrücke gefährdet. Die kritischen
Gedanken, welche sich als Resultate ergeben, werden nirgend ausgesprochen,
kaum angedeutet.

Auf derselben Linie mit dem "Tagebuch" steht die Novelle "Das adlige
Nest". Lawretzky, der Held derselben, ist ein ein reicher, europäisch gebildeter
Edelmann, der aus Frankreich zurückkehrt und in der Stille seines Land¬
sitzes den Frieden wiederfinden will, den ihm seine Frau, eine Repräsentantin
des ausgehöhlten, französisch polirten Petersburgerthums geraubt hat. Er
ist der Typus des modernen Russen, der wieder das Bedürfniß der Aus¬
söhnung mit der Heimath fühlt, der er durch seine Bildung entfremdet ist,
aber zur Stillung desselben nicht gelangen kann: in seinen Vorfahren wer¬
den uns Vertreter jener Gallomanie und Anglomanie vorgeführt, welche zur
Zeit Catharinens und Alexanders I. in der Nachäffung fremder Formen ihre
Aufgabe sahen und zu Hause als Despoten schlimmster Art hausten. Das
einfache russische Mädchen, des Lawretzky liebt, wird, nachdem die Kunde von
dem Tode seiner Frau sich als falsch erwiesen, durch ihre Gewissensangst in
ein Kloster getrieben -- er selbst verbringt in dem Hause seines Vaters
das Leben als heimathloser Eremit. Die Monotonie -und Inhaltslosigkeit
dieser Existenzen, die sich im Vollgefühl reichster Kraft zwecklos verzehren
müssen, ist vielleicht nie so ergreifend geschildert worden, als in dem Abschnitt,
der Lawretzkys ersten Besuch in dem verwilderten Garten seines Landhauses
schildert: "So bin ich denn jetzt auf des Flusses tiefstem Grunde angelangt!
zu jeder Zeit ist das Leben hier still und kennt es keine Eile. Wer in diesen
Zauberkreis kommt, muß sich ihm bedingungslos unterwerfen.. Und welche
Kraft ist rings umher, wie viel Gesundheit in dieser thatenloser Stille! Hier
unter dem Fenster dringt dickes Farrenkraut aus dem dichtem Grase, dort
ragt des Liebstocks saftiger Stengel strotzend, empor, höher noch erheben
Liebfrauenthränen die rosigen Locken. Weiter unten im Felde glänzt der
Roggen, schießt der Hafer in üppigen Halmen auf und in behaglicher Breite


vom Abfall der vornehmen Welt nähren und nichts nach dem Volk fragen,
oder aber unglückliche verfehlte Existenzen, die durch die feinere Bildung,
welche sie erworben, ihrer Umgebung entfremdet sind und nicht wissen, was
sie mit den höheren Gütern, welche sie in der Fremde erworben, anfangen
sollen, weil es außerhalb der Sclaverei des Staatsdienstes keinen Spielraum
für gebildete Thätigkeit gibt. Ueber dem eigentlichen Volk liegt die Leib¬
eigenschaft wie ein dunkler, gespenstischer Schleier, der jedes fröhliche Auf¬
streben, jede gesunde Kraftentfaltung niederhält und im Keim erstickt. Der
Verfasser selbst erscheint als versprengter Culturapostel, der sich trotz seiner
warmen Liebe zur Heimath in derselben nicht zurechtfinden kann und ein
Fremdling bleibt. Und doch verräth sich nirgend eine Absicht, die die Ur¬
sprünglichkeit der gewonnenen poetischen Eindrücke gefährdet. Die kritischen
Gedanken, welche sich als Resultate ergeben, werden nirgend ausgesprochen,
kaum angedeutet.

Auf derselben Linie mit dem „Tagebuch" steht die Novelle „Das adlige
Nest". Lawretzky, der Held derselben, ist ein ein reicher, europäisch gebildeter
Edelmann, der aus Frankreich zurückkehrt und in der Stille seines Land¬
sitzes den Frieden wiederfinden will, den ihm seine Frau, eine Repräsentantin
des ausgehöhlten, französisch polirten Petersburgerthums geraubt hat. Er
ist der Typus des modernen Russen, der wieder das Bedürfniß der Aus¬
söhnung mit der Heimath fühlt, der er durch seine Bildung entfremdet ist,
aber zur Stillung desselben nicht gelangen kann: in seinen Vorfahren wer¬
den uns Vertreter jener Gallomanie und Anglomanie vorgeführt, welche zur
Zeit Catharinens und Alexanders I. in der Nachäffung fremder Formen ihre
Aufgabe sahen und zu Hause als Despoten schlimmster Art hausten. Das
einfache russische Mädchen, des Lawretzky liebt, wird, nachdem die Kunde von
dem Tode seiner Frau sich als falsch erwiesen, durch ihre Gewissensangst in
ein Kloster getrieben — er selbst verbringt in dem Hause seines Vaters
das Leben als heimathloser Eremit. Die Monotonie -und Inhaltslosigkeit
dieser Existenzen, die sich im Vollgefühl reichster Kraft zwecklos verzehren
müssen, ist vielleicht nie so ergreifend geschildert worden, als in dem Abschnitt,
der Lawretzkys ersten Besuch in dem verwilderten Garten seines Landhauses
schildert: „So bin ich denn jetzt auf des Flusses tiefstem Grunde angelangt!
zu jeder Zeit ist das Leben hier still und kennt es keine Eile. Wer in diesen
Zauberkreis kommt, muß sich ihm bedingungslos unterwerfen.. Und welche
Kraft ist rings umher, wie viel Gesundheit in dieser thatenloser Stille! Hier
unter dem Fenster dringt dickes Farrenkraut aus dem dichtem Grase, dort
ragt des Liebstocks saftiger Stengel strotzend, empor, höher noch erheben
Liebfrauenthränen die rosigen Locken. Weiter unten im Felde glänzt der
Roggen, schießt der Hafer in üppigen Halmen auf und in behaglicher Breite


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[0256] vom Abfall der vornehmen Welt nähren und nichts nach dem Volk fragen, oder aber unglückliche verfehlte Existenzen, die durch die feinere Bildung, welche sie erworben, ihrer Umgebung entfremdet sind und nicht wissen, was sie mit den höheren Gütern, welche sie in der Fremde erworben, anfangen sollen, weil es außerhalb der Sclaverei des Staatsdienstes keinen Spielraum für gebildete Thätigkeit gibt. Ueber dem eigentlichen Volk liegt die Leib¬ eigenschaft wie ein dunkler, gespenstischer Schleier, der jedes fröhliche Auf¬ streben, jede gesunde Kraftentfaltung niederhält und im Keim erstickt. Der Verfasser selbst erscheint als versprengter Culturapostel, der sich trotz seiner warmen Liebe zur Heimath in derselben nicht zurechtfinden kann und ein Fremdling bleibt. Und doch verräth sich nirgend eine Absicht, die die Ur¬ sprünglichkeit der gewonnenen poetischen Eindrücke gefährdet. Die kritischen Gedanken, welche sich als Resultate ergeben, werden nirgend ausgesprochen, kaum angedeutet. Auf derselben Linie mit dem „Tagebuch" steht die Novelle „Das adlige Nest". Lawretzky, der Held derselben, ist ein ein reicher, europäisch gebildeter Edelmann, der aus Frankreich zurückkehrt und in der Stille seines Land¬ sitzes den Frieden wiederfinden will, den ihm seine Frau, eine Repräsentantin des ausgehöhlten, französisch polirten Petersburgerthums geraubt hat. Er ist der Typus des modernen Russen, der wieder das Bedürfniß der Aus¬ söhnung mit der Heimath fühlt, der er durch seine Bildung entfremdet ist, aber zur Stillung desselben nicht gelangen kann: in seinen Vorfahren wer¬ den uns Vertreter jener Gallomanie und Anglomanie vorgeführt, welche zur Zeit Catharinens und Alexanders I. in der Nachäffung fremder Formen ihre Aufgabe sahen und zu Hause als Despoten schlimmster Art hausten. Das einfache russische Mädchen, des Lawretzky liebt, wird, nachdem die Kunde von dem Tode seiner Frau sich als falsch erwiesen, durch ihre Gewissensangst in ein Kloster getrieben — er selbst verbringt in dem Hause seines Vaters das Leben als heimathloser Eremit. Die Monotonie -und Inhaltslosigkeit dieser Existenzen, die sich im Vollgefühl reichster Kraft zwecklos verzehren müssen, ist vielleicht nie so ergreifend geschildert worden, als in dem Abschnitt, der Lawretzkys ersten Besuch in dem verwilderten Garten seines Landhauses schildert: „So bin ich denn jetzt auf des Flusses tiefstem Grunde angelangt! zu jeder Zeit ist das Leben hier still und kennt es keine Eile. Wer in diesen Zauberkreis kommt, muß sich ihm bedingungslos unterwerfen.. Und welche Kraft ist rings umher, wie viel Gesundheit in dieser thatenloser Stille! Hier unter dem Fenster dringt dickes Farrenkraut aus dem dichtem Grase, dort ragt des Liebstocks saftiger Stengel strotzend, empor, höher noch erheben Liebfrauenthränen die rosigen Locken. Weiter unten im Felde glänzt der Roggen, schießt der Hafer in üppigen Halmen auf und in behaglicher Breite

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/256>, abgerufen am 15.01.2025.