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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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vollständig war der gebildete Russe seinem Vaterlande entfremdet worden, daß
er nach den eigenthümlichen Erscheinungen und Bedürfnissen desselben schlie߬
lich gar nicht mehr fragte, sondern sie von sich stieß, wo sie ihm begeg¬
neten: seine Heimath war die in Petersburg aufgestellte französisch bemalte
Staats- und Gesellschaftscoulisse, zu der Peters Schöpfung im Lauf der Zeit
eingeschrumpft zu sein schien.

Der von diesen Verhältnissen bedingten Volksstimmung Ausdruck zu
geben, mußte die Aufgabe jeder nationalen Poesie sein, die auf ein Echo
rechnen wollte. Die Uebel, an denen das russische Staats- und Gesell¬
schaftsleben krankte und die schweigend getragen werden mußten, waren
so groß und in die Augen springend, daß, wer von russischen Dingen
singen und sagen wollte, mit ihnen den Anfang machen mußte. Es ist nicht
übertrieben, wenn wir behaupten, alle hervorragenden Erscheinungen der rus¬
sischen Literatur seien Anklagen gegen das herrschende System gewesen --
auf eine bleibende Wirkung hätten nur diejenigen Dichtungen rechnen können,
welche demselben einen Spiegel vorhielten. Wie gering der Einfluß der Hof¬
literatur des vorigen Jahrhunderts war, die, in academische Regeln gebun¬
den, als nationaler Luxusgegenstand gehegt und gepflegt wurde, geht schon
aus dem einen Umstände hervor, daß die hervorragenden Russen der Neuzeit
nicht von ihr, sondern fast ausnahmlos von Engländern und Deutschen die
Impulse zu selbständigem Schaffen empfangen haben und daß keiner der Schrift¬
steller, welche im modernen Rußland gelesen werden, von Lomonoschow und
Derschawin mehr gelernt haben, als gewisse Äußerlichkeiten der Prosodie.
Lomonossows in den letzten Jahren wiederhergestellte Popularität beruht
eigentlich nur darauf, daß dieser Gelehrte ein Feind seiner deutschen Lehrer
und der erste öffentliche Gegner des deutschen Einflusses in Petersburg war.

Durchschreiten wir die Reihe der wahrhaft einflußvollen und bedeutenden
russischen Dichter des 19. Jahrhunderts, so begegnen wir ebensoviel Anklä¬
gern der russischen Wirklichkeit: feinen Ruf hat jeder derselben durch einen
kühnen Angriff auf die bestehende Ordnung, deren Unwahrheit, Hohlheit und
Verderbtheit erworben. Gribojedows, nach Form und Inhalt meister¬
haftes, heute von jedem gebildeten Russen auswendig gekanntes Lustspiel:
"Leiden wegen Verstand" (Oore ot n.mu), eröffnet den Reigen mit einer
furchtbaren Parodie auf die sogenannte vornehme Gesellschaft: ein junger
Mann, der seine Bildungsjahre im Auslande verbracht hat, kehrt nach Mos¬
kau zurück und stößt hier in jedem Verhältniß an, weil er ein vernünftiger
Mensch und außer Stande ist. die Modethorheiten und Modelaster, aus denen
das moskauer Leben besteht, mitzumachen. Der Reihe nach werden alle Ty¬
pen dieser Gesellschaft dem Leser vorgeführt: Tamussow. der alte cynische
Senator, dem nichts so verhaßt ist wie Feder und Dinte, sein Secretär, der


vollständig war der gebildete Russe seinem Vaterlande entfremdet worden, daß
er nach den eigenthümlichen Erscheinungen und Bedürfnissen desselben schlie߬
lich gar nicht mehr fragte, sondern sie von sich stieß, wo sie ihm begeg¬
neten: seine Heimath war die in Petersburg aufgestellte französisch bemalte
Staats- und Gesellschaftscoulisse, zu der Peters Schöpfung im Lauf der Zeit
eingeschrumpft zu sein schien.

Der von diesen Verhältnissen bedingten Volksstimmung Ausdruck zu
geben, mußte die Aufgabe jeder nationalen Poesie sein, die auf ein Echo
rechnen wollte. Die Uebel, an denen das russische Staats- und Gesell¬
schaftsleben krankte und die schweigend getragen werden mußten, waren
so groß und in die Augen springend, daß, wer von russischen Dingen
singen und sagen wollte, mit ihnen den Anfang machen mußte. Es ist nicht
übertrieben, wenn wir behaupten, alle hervorragenden Erscheinungen der rus¬
sischen Literatur seien Anklagen gegen das herrschende System gewesen —
auf eine bleibende Wirkung hätten nur diejenigen Dichtungen rechnen können,
welche demselben einen Spiegel vorhielten. Wie gering der Einfluß der Hof¬
literatur des vorigen Jahrhunderts war, die, in academische Regeln gebun¬
den, als nationaler Luxusgegenstand gehegt und gepflegt wurde, geht schon
aus dem einen Umstände hervor, daß die hervorragenden Russen der Neuzeit
nicht von ihr, sondern fast ausnahmlos von Engländern und Deutschen die
Impulse zu selbständigem Schaffen empfangen haben und daß keiner der Schrift¬
steller, welche im modernen Rußland gelesen werden, von Lomonoschow und
Derschawin mehr gelernt haben, als gewisse Äußerlichkeiten der Prosodie.
Lomonossows in den letzten Jahren wiederhergestellte Popularität beruht
eigentlich nur darauf, daß dieser Gelehrte ein Feind seiner deutschen Lehrer
und der erste öffentliche Gegner des deutschen Einflusses in Petersburg war.

Durchschreiten wir die Reihe der wahrhaft einflußvollen und bedeutenden
russischen Dichter des 19. Jahrhunderts, so begegnen wir ebensoviel Anklä¬
gern der russischen Wirklichkeit: feinen Ruf hat jeder derselben durch einen
kühnen Angriff auf die bestehende Ordnung, deren Unwahrheit, Hohlheit und
Verderbtheit erworben. Gribojedows, nach Form und Inhalt meister¬
haftes, heute von jedem gebildeten Russen auswendig gekanntes Lustspiel:
„Leiden wegen Verstand" (Oore ot n.mu), eröffnet den Reigen mit einer
furchtbaren Parodie auf die sogenannte vornehme Gesellschaft: ein junger
Mann, der seine Bildungsjahre im Auslande verbracht hat, kehrt nach Mos¬
kau zurück und stößt hier in jedem Verhältniß an, weil er ein vernünftiger
Mensch und außer Stande ist. die Modethorheiten und Modelaster, aus denen
das moskauer Leben besteht, mitzumachen. Der Reihe nach werden alle Ty¬
pen dieser Gesellschaft dem Leser vorgeführt: Tamussow. der alte cynische
Senator, dem nichts so verhaßt ist wie Feder und Dinte, sein Secretär, der


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[0251] vollständig war der gebildete Russe seinem Vaterlande entfremdet worden, daß er nach den eigenthümlichen Erscheinungen und Bedürfnissen desselben schlie߬ lich gar nicht mehr fragte, sondern sie von sich stieß, wo sie ihm begeg¬ neten: seine Heimath war die in Petersburg aufgestellte französisch bemalte Staats- und Gesellschaftscoulisse, zu der Peters Schöpfung im Lauf der Zeit eingeschrumpft zu sein schien. Der von diesen Verhältnissen bedingten Volksstimmung Ausdruck zu geben, mußte die Aufgabe jeder nationalen Poesie sein, die auf ein Echo rechnen wollte. Die Uebel, an denen das russische Staats- und Gesell¬ schaftsleben krankte und die schweigend getragen werden mußten, waren so groß und in die Augen springend, daß, wer von russischen Dingen singen und sagen wollte, mit ihnen den Anfang machen mußte. Es ist nicht übertrieben, wenn wir behaupten, alle hervorragenden Erscheinungen der rus¬ sischen Literatur seien Anklagen gegen das herrschende System gewesen — auf eine bleibende Wirkung hätten nur diejenigen Dichtungen rechnen können, welche demselben einen Spiegel vorhielten. Wie gering der Einfluß der Hof¬ literatur des vorigen Jahrhunderts war, die, in academische Regeln gebun¬ den, als nationaler Luxusgegenstand gehegt und gepflegt wurde, geht schon aus dem einen Umstände hervor, daß die hervorragenden Russen der Neuzeit nicht von ihr, sondern fast ausnahmlos von Engländern und Deutschen die Impulse zu selbständigem Schaffen empfangen haben und daß keiner der Schrift¬ steller, welche im modernen Rußland gelesen werden, von Lomonoschow und Derschawin mehr gelernt haben, als gewisse Äußerlichkeiten der Prosodie. Lomonossows in den letzten Jahren wiederhergestellte Popularität beruht eigentlich nur darauf, daß dieser Gelehrte ein Feind seiner deutschen Lehrer und der erste öffentliche Gegner des deutschen Einflusses in Petersburg war. Durchschreiten wir die Reihe der wahrhaft einflußvollen und bedeutenden russischen Dichter des 19. Jahrhunderts, so begegnen wir ebensoviel Anklä¬ gern der russischen Wirklichkeit: feinen Ruf hat jeder derselben durch einen kühnen Angriff auf die bestehende Ordnung, deren Unwahrheit, Hohlheit und Verderbtheit erworben. Gribojedows, nach Form und Inhalt meister¬ haftes, heute von jedem gebildeten Russen auswendig gekanntes Lustspiel: „Leiden wegen Verstand" (Oore ot n.mu), eröffnet den Reigen mit einer furchtbaren Parodie auf die sogenannte vornehme Gesellschaft: ein junger Mann, der seine Bildungsjahre im Auslande verbracht hat, kehrt nach Mos¬ kau zurück und stößt hier in jedem Verhältniß an, weil er ein vernünftiger Mensch und außer Stande ist. die Modethorheiten und Modelaster, aus denen das moskauer Leben besteht, mitzumachen. Der Reihe nach werden alle Ty¬ pen dieser Gesellschaft dem Leser vorgeführt: Tamussow. der alte cynische Senator, dem nichts so verhaßt ist wie Feder und Dinte, sein Secretär, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/251>, abgerufen am 15.01.2025.