Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.Nicht aus der Tiefe eines selbstzufriedenen kräftigen Volksthums, nicht Das Jahrhundert, welches den Reformen Peters des Gr. folgte, war vergeb¬ Nicht aus der Tiefe eines selbstzufriedenen kräftigen Volksthums, nicht Das Jahrhundert, welches den Reformen Peters des Gr. folgte, war vergeb¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0250" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117782"/> <p xml:id="ID_799" prev="#ID_798"> Nicht aus der Tiefe eines selbstzufriedenen kräftigen Volksthums, nicht<lb/> als die Blüthe einer in sich befriedigten Existenz auch nicht als der ge¬<lb/> hätschelte Schmuck eines prunkenden Hofes ist diese Literatur ans Licht ge¬<lb/> treten, sondern als die einzige Waffe einer Nation, die sich im übrigen wehr¬<lb/> los und gebunden in den Händen fremder Einflüsse und rücksichtsloser Ge¬<lb/> walten wußte. Unter politischen Verhältnissen, welche das Volk und dessen<lb/> einzelne Glieder von jeder Theilnahme an den öffentlichen Dingen ausschließen,<lb/> in denen es keine Tribüne und keine Kanzel, kein unabhängiges Katheder<lb/> und kein Volksgericht gibt, wo alle Aeußerungen nationalen Lebens durch<lb/> ein strenges Gesetz gebunden sind, muß das geschriebene und gedruckte Wort<lb/> an und für sich eine andere Stellung einnehmen als inmitten günstiger ge¬<lb/> arteter Zustände. In dem Zustande der Gebundenheit hat die russische Ge¬<lb/> sellschaft sich aber bis in die Gegenwart hinein befunden.</p><lb/> <p xml:id="ID_800" next="#ID_801"> Das Jahrhundert, welches den Reformen Peters des Gr. folgte, war vergeb¬<lb/> lich bemüht, die gegebenen altrussischen Elemente mit den aus Westen importirten<lb/> Einrichtungen zu verschmelzen und in eine organische Verbindung zu brin¬<lb/> gen. Der Hof, die Staatsmaschine und diejenigen Classen der Gesellschaft,<lb/> welchen die Lebensbedingungen vorgeschrieben wurden, führten eine vom<lb/> Bolksthum vollständig gesonderte Existenz und hatten mit demselben eigentlich<lb/> nichts gemein. Alle Kräfte des Staats wurden von dem Kampf um die<lb/> Erweiterung der Grenzen desselben verzehrt und jeder wahrhaft volksthüm-<lb/> lichen Aufgabe entfremdet. Die niederen Classen schmachteten unter dem<lb/> Joch einer Leibeigenschaft, die entschieden härter geworden war, seit Herren<lb/> und Bauern einander entfremdet, nicht mehr auf dem Boden verwandter<lb/> Bildung standen; was sich emporarbeiten wollte in die höheren Schichten,<lb/> mußte mit der nationalen Tradition brechen und Glied einer Maschine<lb/> werden, die nicht um des Volkes willen da zu sein schien, sondern lediglich um<lb/> ihrer selbst willen. Der Staatsdienst bot das einzige Mittel zum Eintritt<lb/> in die herrschende Classe, aber er war der Würde einer höheren Bestimmung<lb/> entkleidet und konnte keine innere Befriedigung gewähren. Ebenso egoistisch<lb/> und aus sich selbst beschränkt war die der europäischen Cultur gewonnene<lb/> Aristocratie; entweder verpraßte sie ihre Kräfte in dem Wechsel bacchantischer<lb/> Feste und nutzloser officiöser Schaustellungen, oder sie verträumte berufs- und<lb/> reizlos ihr Dasein auf versprengten Landsitzen. Während sich das eigentliche<lb/> Volksthum in bettelhafter Armuth weiter fristete, wurden seine Kräfte dem<lb/> Idol äußerer Machtstellung und dem Cultus einer dem Westen erborgten<lb/> Cultur zum Opfer gebracht. Sprache, Denkungsart und Empfindungsweise,<lb/> der Aristokratie war unrussisch, ihre Glieder mühten sich um den Besitz von<lb/> Dingen ab, mit denen sie schließlich nichts anzufangen wußten, weil sie Kunst¬<lb/> pflanzen waren, die in der fremden Erde nicht Wurzel schlagen konnten. So</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0250]
Nicht aus der Tiefe eines selbstzufriedenen kräftigen Volksthums, nicht
als die Blüthe einer in sich befriedigten Existenz auch nicht als der ge¬
hätschelte Schmuck eines prunkenden Hofes ist diese Literatur ans Licht ge¬
treten, sondern als die einzige Waffe einer Nation, die sich im übrigen wehr¬
los und gebunden in den Händen fremder Einflüsse und rücksichtsloser Ge¬
walten wußte. Unter politischen Verhältnissen, welche das Volk und dessen
einzelne Glieder von jeder Theilnahme an den öffentlichen Dingen ausschließen,
in denen es keine Tribüne und keine Kanzel, kein unabhängiges Katheder
und kein Volksgericht gibt, wo alle Aeußerungen nationalen Lebens durch
ein strenges Gesetz gebunden sind, muß das geschriebene und gedruckte Wort
an und für sich eine andere Stellung einnehmen als inmitten günstiger ge¬
arteter Zustände. In dem Zustande der Gebundenheit hat die russische Ge¬
sellschaft sich aber bis in die Gegenwart hinein befunden.
Das Jahrhundert, welches den Reformen Peters des Gr. folgte, war vergeb¬
lich bemüht, die gegebenen altrussischen Elemente mit den aus Westen importirten
Einrichtungen zu verschmelzen und in eine organische Verbindung zu brin¬
gen. Der Hof, die Staatsmaschine und diejenigen Classen der Gesellschaft,
welchen die Lebensbedingungen vorgeschrieben wurden, führten eine vom
Bolksthum vollständig gesonderte Existenz und hatten mit demselben eigentlich
nichts gemein. Alle Kräfte des Staats wurden von dem Kampf um die
Erweiterung der Grenzen desselben verzehrt und jeder wahrhaft volksthüm-
lichen Aufgabe entfremdet. Die niederen Classen schmachteten unter dem
Joch einer Leibeigenschaft, die entschieden härter geworden war, seit Herren
und Bauern einander entfremdet, nicht mehr auf dem Boden verwandter
Bildung standen; was sich emporarbeiten wollte in die höheren Schichten,
mußte mit der nationalen Tradition brechen und Glied einer Maschine
werden, die nicht um des Volkes willen da zu sein schien, sondern lediglich um
ihrer selbst willen. Der Staatsdienst bot das einzige Mittel zum Eintritt
in die herrschende Classe, aber er war der Würde einer höheren Bestimmung
entkleidet und konnte keine innere Befriedigung gewähren. Ebenso egoistisch
und aus sich selbst beschränkt war die der europäischen Cultur gewonnene
Aristocratie; entweder verpraßte sie ihre Kräfte in dem Wechsel bacchantischer
Feste und nutzloser officiöser Schaustellungen, oder sie verträumte berufs- und
reizlos ihr Dasein auf versprengten Landsitzen. Während sich das eigentliche
Volksthum in bettelhafter Armuth weiter fristete, wurden seine Kräfte dem
Idol äußerer Machtstellung und dem Cultus einer dem Westen erborgten
Cultur zum Opfer gebracht. Sprache, Denkungsart und Empfindungsweise,
der Aristokratie war unrussisch, ihre Glieder mühten sich um den Besitz von
Dingen ab, mit denen sie schließlich nichts anzufangen wußten, weil sie Kunst¬
pflanzen waren, die in der fremden Erde nicht Wurzel schlagen konnten. So
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