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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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Unterdeß wollen wir die französischen Zeitungen, welche jetzt uns zu
friedlicher Gesinnung mahnen, doch daran erinnern, daß zwar wir durchaus
friedfertig sind, daß wir aber sehr 'wohl wissen, welchen Werth die Friedens¬
worte der officiösen Presse Frankreichs haben.




Zwar Turgenjew.

Rauch. Aus dem Russischen des Iwan Turgenjew. Autorisirte Ausgabe. (Mitau
bei Fr. Lucas).

Deutsche Beurtheiler russischer Kunstwerke kommen, auch wenn sie denselben
die vollständigste Anerkennung zollen, stets auf einen Borwurf gegen dieselben
zurück: den des Pessimismus. Die Freude an den glänzendsten Schöpfungen
des russischen Volksgeistes wird ihnen, durch den tief melancholischen, jedes ästhe¬
tische Behagen ausschließenden Hintergrund verkümmert, der sich an beinahe
allen hervorragenden Erzeugnissen nachweisen läßt, und geradezu für den Fami¬
lienzug der modernen Literatur Rußlands gelten kann. Seit Bodenstedts
treffliche Uebersetzungen die Namen Puschkin, Lermontow, Koslow, Turgen¬
jew u. s. w. in Deutschland heimisch gemacht haben, ist auch für diejenigen,
welche der russischen Sprache nicht mächtig waren, die Möglichkeit vorhanden
gewesen, jene Literatur in einem gewissen Zusammenhange, mindestens aus
einer größeren Summe über dieselbe gewonnener Anschauungen kennen und
beurtheilen zu lernen. Aber diese erweiterte Bekanntschaft hat nur dazu geführt,
den aus den ersten flüchtigen Berührungen gewonnenen Eindruck zu vertiefen.

In den letzten Jahren hat noch ein Umstand wesentlich dazu beige¬
tragen, diesen der russischen Literatur gemachten Vorwurf des Pessimis¬
mus zu verschärfen: die Aufhebung der Leibeigenschaft hat nach der An¬
sicht der Mehrzahl ihrer westeuropäischen Zeugen das Hauptodium der rus¬
sischen Zustände aus der Welt geschafft, die Kette gebrochen an der die
Dichter des russischen Volkes ebenso unmuthig zerrten, wie diejenigen, welche
sie zu tragen hatten. Wenn die Grundstimmung der russischen Poeten den¬
noch dieselbe geblieben ist, wenn das Buch, welches zu den vorliegenden Be¬
trachtungen die Veranlassung geboten, den pessimistischen Zweifel an einer
heilsamen Entwickelung der russischen Dinge noch entschiedener ausspricht als
irgend eine der früheren Dichtungen 'gleicher Gattung, so wird die Erklärung
dieser Erscheinung nothwendig an die Spitze jeder Erörterung über russische
Schriften und russische Schriftsteller gestellt werden müssen.

Die russische Nationalliteratur hat von Hause aus einen anderen
Ausgangspunkt gehabt, als die deutsche, französische oder englische.


Unterdeß wollen wir die französischen Zeitungen, welche jetzt uns zu
friedlicher Gesinnung mahnen, doch daran erinnern, daß zwar wir durchaus
friedfertig sind, daß wir aber sehr 'wohl wissen, welchen Werth die Friedens¬
worte der officiösen Presse Frankreichs haben.




Zwar Turgenjew.

Rauch. Aus dem Russischen des Iwan Turgenjew. Autorisirte Ausgabe. (Mitau
bei Fr. Lucas).

Deutsche Beurtheiler russischer Kunstwerke kommen, auch wenn sie denselben
die vollständigste Anerkennung zollen, stets auf einen Borwurf gegen dieselben
zurück: den des Pessimismus. Die Freude an den glänzendsten Schöpfungen
des russischen Volksgeistes wird ihnen, durch den tief melancholischen, jedes ästhe¬
tische Behagen ausschließenden Hintergrund verkümmert, der sich an beinahe
allen hervorragenden Erzeugnissen nachweisen läßt, und geradezu für den Fami¬
lienzug der modernen Literatur Rußlands gelten kann. Seit Bodenstedts
treffliche Uebersetzungen die Namen Puschkin, Lermontow, Koslow, Turgen¬
jew u. s. w. in Deutschland heimisch gemacht haben, ist auch für diejenigen,
welche der russischen Sprache nicht mächtig waren, die Möglichkeit vorhanden
gewesen, jene Literatur in einem gewissen Zusammenhange, mindestens aus
einer größeren Summe über dieselbe gewonnener Anschauungen kennen und
beurtheilen zu lernen. Aber diese erweiterte Bekanntschaft hat nur dazu geführt,
den aus den ersten flüchtigen Berührungen gewonnenen Eindruck zu vertiefen.

In den letzten Jahren hat noch ein Umstand wesentlich dazu beige¬
tragen, diesen der russischen Literatur gemachten Vorwurf des Pessimis¬
mus zu verschärfen: die Aufhebung der Leibeigenschaft hat nach der An¬
sicht der Mehrzahl ihrer westeuropäischen Zeugen das Hauptodium der rus¬
sischen Zustände aus der Welt geschafft, die Kette gebrochen an der die
Dichter des russischen Volkes ebenso unmuthig zerrten, wie diejenigen, welche
sie zu tragen hatten. Wenn die Grundstimmung der russischen Poeten den¬
noch dieselbe geblieben ist, wenn das Buch, welches zu den vorliegenden Be¬
trachtungen die Veranlassung geboten, den pessimistischen Zweifel an einer
heilsamen Entwickelung der russischen Dinge noch entschiedener ausspricht als
irgend eine der früheren Dichtungen 'gleicher Gattung, so wird die Erklärung
dieser Erscheinung nothwendig an die Spitze jeder Erörterung über russische
Schriften und russische Schriftsteller gestellt werden müssen.

Die russische Nationalliteratur hat von Hause aus einen anderen
Ausgangspunkt gehabt, als die deutsche, französische oder englische.


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[0249] Unterdeß wollen wir die französischen Zeitungen, welche jetzt uns zu friedlicher Gesinnung mahnen, doch daran erinnern, daß zwar wir durchaus friedfertig sind, daß wir aber sehr 'wohl wissen, welchen Werth die Friedens¬ worte der officiösen Presse Frankreichs haben. Zwar Turgenjew. Rauch. Aus dem Russischen des Iwan Turgenjew. Autorisirte Ausgabe. (Mitau bei Fr. Lucas). Deutsche Beurtheiler russischer Kunstwerke kommen, auch wenn sie denselben die vollständigste Anerkennung zollen, stets auf einen Borwurf gegen dieselben zurück: den des Pessimismus. Die Freude an den glänzendsten Schöpfungen des russischen Volksgeistes wird ihnen, durch den tief melancholischen, jedes ästhe¬ tische Behagen ausschließenden Hintergrund verkümmert, der sich an beinahe allen hervorragenden Erzeugnissen nachweisen läßt, und geradezu für den Fami¬ lienzug der modernen Literatur Rußlands gelten kann. Seit Bodenstedts treffliche Uebersetzungen die Namen Puschkin, Lermontow, Koslow, Turgen¬ jew u. s. w. in Deutschland heimisch gemacht haben, ist auch für diejenigen, welche der russischen Sprache nicht mächtig waren, die Möglichkeit vorhanden gewesen, jene Literatur in einem gewissen Zusammenhange, mindestens aus einer größeren Summe über dieselbe gewonnener Anschauungen kennen und beurtheilen zu lernen. Aber diese erweiterte Bekanntschaft hat nur dazu geführt, den aus den ersten flüchtigen Berührungen gewonnenen Eindruck zu vertiefen. In den letzten Jahren hat noch ein Umstand wesentlich dazu beige¬ tragen, diesen der russischen Literatur gemachten Vorwurf des Pessimis¬ mus zu verschärfen: die Aufhebung der Leibeigenschaft hat nach der An¬ sicht der Mehrzahl ihrer westeuropäischen Zeugen das Hauptodium der rus¬ sischen Zustände aus der Welt geschafft, die Kette gebrochen an der die Dichter des russischen Volkes ebenso unmuthig zerrten, wie diejenigen, welche sie zu tragen hatten. Wenn die Grundstimmung der russischen Poeten den¬ noch dieselbe geblieben ist, wenn das Buch, welches zu den vorliegenden Be¬ trachtungen die Veranlassung geboten, den pessimistischen Zweifel an einer heilsamen Entwickelung der russischen Dinge noch entschiedener ausspricht als irgend eine der früheren Dichtungen 'gleicher Gattung, so wird die Erklärung dieser Erscheinung nothwendig an die Spitze jeder Erörterung über russische Schriften und russische Schriftsteller gestellt werden müssen. Die russische Nationalliteratur hat von Hause aus einen anderen Ausgangspunkt gehabt, als die deutsche, französische oder englische.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/249>, abgerufen am 15.01.2025.