Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.Befangenheit ganz freigeblieben oder freigeworden ist? Leidenschaftlichen Anti¬ Im Ernste übrigens zu sprechen: es hat vielleicht sein Gutes für die Schon bei der Präsidentenwahl am 28. April verrieth sich, daß ein ge¬ Befangenheit ganz freigeblieben oder freigeworden ist? Leidenschaftlichen Anti¬ Im Ernste übrigens zu sprechen: es hat vielleicht sein Gutes für die Schon bei der Präsidentenwahl am 28. April verrieth sich, daß ein ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0241" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117773"/> <p xml:id="ID_773" prev="#ID_772"> Befangenheit ganz freigeblieben oder freigeworden ist? Leidenschaftlichen Anti¬<lb/> pathien zugänglich, hat er als parlamentarischer Anfänger die „Vertil¬<lb/> gung der großen Städte vom Erdboden", als angehender Diplomat die<lb/> Abkehr von den der „süddeutschen Zuchtlosigkeit" proclamirt — Gefühls¬<lb/> ausbrüche, von denen er heute.wahrscheinlich auch den letzteren schon<lb/> , desavouiren würde. Seine alten Parteigenossen ihrerseits aber wenden sich<lb/> natürlich schwerer von den gemeinsam eingesogenen Vorurtheilen ab. Den<lb/> trägeren Operationen ihres Gehirnes entspricht'es, wenn sie ihrem Staate<lb/> eine langsamere Verdauung zuschreiben, als er wirklich besitzt, und ihm daher<lb/> für lange Zeit nicht mehr aufgeladen sehen möchten, als was er 1866 zu sich<lb/> genommen hat. Daher sympathisiren sie augenblicklich wunderbar mit ihren<lb/> ärgsten Gegnern, den fixen Objecten ihrer Antipathie, den süddeutschen Ra¬<lb/> dikalen und Preußenfrefsern; sie reichen diesen die Hand zum Bunde gegen<lb/> die vorwärtsdrängende liberale Nationalpartei, welche doch im Grunde nichts<lb/> will, als die heutigen ihr gegenüberstehenden Bundesgenossen noch inniger,<lb/> umfassender und für immer zusammenführen. Sie stellen jenes bekannte Lust¬<lb/> spielmotiv dar, wo ein Benedict und eine Beatrice sich in verzweifeltem Hu¬<lb/> mor gegen die beiderseitigen Angehörigen verbünden, welche aus ihnen durch¬<lb/> aus ein Paar machen wollen. Wenn nur aus dem Abneigungsbunde selbst<lb/> nicht am Ende ein Liebesbund wird!</p><lb/> <p xml:id="ID_774"> Im Ernste übrigens zu sprechen: es hat vielleicht sein Gutes für die<lb/> Beförderung des Einheitsprozesses, daß unklare und übertriebene Angst vor<lb/> nationalliberalen Attentaten die Extreme veranlaßt hat, mit einander zu con-<lb/> spiriren. Sie müssen dabei doch gewahren, daß das Bild in vielem über-<lb/> trieben war, welches sie sich "von einander gemacht hatten. Wenn sie damit<lb/> beginnen, sich im nationalen Parlament gegenseitig Hilfe zu leisten, wie kann<lb/> denn da die Abneigung gegen so brave, bisher verkannte Leute fortfahren,<lb/> sie gegen größere politische Solidarität der Nation einzunehmen? Dafür daß<lb/> keins der vorübergehend verbündeten beiden Extreme dem ihm ausschließlich<lb/> eigenthümlichen Theil seiner Ideale im Parlament nachjage, ist ja hinreichend<lb/> gesorgt, eben durch die Existenz einer anders gesinnten Mittelpartei. Die<lb/> Nationalliberalen sind zu liberal, um sich nicht gegen jedes Gelüst feudaler<lb/> oder bureaukratischer Reaction zu stemmen, und wiederum zu gemäßigt-prak¬<lb/> tisch und positiv, um mit in das Horn zu stoßen, auf welchem der Radica-<lb/> lismus seine idyllischen Melodien bläst.</p><lb/> <p xml:id="ID_775"> Schon bei der Präsidentenwahl am 28. April verrieth sich, daß ein ge¬<lb/> meinsamer, starker und leidenschaftlicher Gegensatz augenblicklich die süddeut¬<lb/> schen Widersacher der Nationalpartei mit den norddeutschen Gegnern des Li¬<lb/> beralismus verbindet. Die ersten beiden Posten waren unbestritten; für den<lb/> dritten stellten die Conservativen den Herzog von Ujest, die Nationallibera¬<lb/> len den Freiherrn v. Roggenbach auf. Fünfzig antipreußisch gesinnte Süd¬<lb/> deutsche, welche in dem ersten Wahlgang für den Freiherrn v. Neurath ge¬<lb/> stimmt hatten, entschieden im zweiten für den Herzog von Ujest. Als<lb/> Süddeutscher und als Liberaler mußte Frhr. v. Roggenbach ihnen genehmer<lb/> sein; in Bezug auf preußische Führung stand ihnen der Herzog v. Ujest, der<lb/> anerkannte Führer der Nationalconservativen (Freiconservativen), mindestens<lb/> ebenso fern, wie der wahrhaft teutschgesinnte ehemalige Minister des Gro߬<lb/> herzogs von Baden. Allein dieser war fürs erste der Candidat der am meisten<lb/> gehaßten, weil am meisten gefürchteten Nationalliberalen, und fürs zweite<lb/> hatte er so zu sagen ein verführerisches individuelles Beispiel der Nichachtung<lb/> von süddeutscher Selbstherrlichkeit und Sonderexistenz aufgestellt: — das<lb/> entschied.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0241]
Befangenheit ganz freigeblieben oder freigeworden ist? Leidenschaftlichen Anti¬
pathien zugänglich, hat er als parlamentarischer Anfänger die „Vertil¬
gung der großen Städte vom Erdboden", als angehender Diplomat die
Abkehr von den der „süddeutschen Zuchtlosigkeit" proclamirt — Gefühls¬
ausbrüche, von denen er heute.wahrscheinlich auch den letzteren schon
, desavouiren würde. Seine alten Parteigenossen ihrerseits aber wenden sich
natürlich schwerer von den gemeinsam eingesogenen Vorurtheilen ab. Den
trägeren Operationen ihres Gehirnes entspricht'es, wenn sie ihrem Staate
eine langsamere Verdauung zuschreiben, als er wirklich besitzt, und ihm daher
für lange Zeit nicht mehr aufgeladen sehen möchten, als was er 1866 zu sich
genommen hat. Daher sympathisiren sie augenblicklich wunderbar mit ihren
ärgsten Gegnern, den fixen Objecten ihrer Antipathie, den süddeutschen Ra¬
dikalen und Preußenfrefsern; sie reichen diesen die Hand zum Bunde gegen
die vorwärtsdrängende liberale Nationalpartei, welche doch im Grunde nichts
will, als die heutigen ihr gegenüberstehenden Bundesgenossen noch inniger,
umfassender und für immer zusammenführen. Sie stellen jenes bekannte Lust¬
spielmotiv dar, wo ein Benedict und eine Beatrice sich in verzweifeltem Hu¬
mor gegen die beiderseitigen Angehörigen verbünden, welche aus ihnen durch¬
aus ein Paar machen wollen. Wenn nur aus dem Abneigungsbunde selbst
nicht am Ende ein Liebesbund wird!
Im Ernste übrigens zu sprechen: es hat vielleicht sein Gutes für die
Beförderung des Einheitsprozesses, daß unklare und übertriebene Angst vor
nationalliberalen Attentaten die Extreme veranlaßt hat, mit einander zu con-
spiriren. Sie müssen dabei doch gewahren, daß das Bild in vielem über-
trieben war, welches sie sich "von einander gemacht hatten. Wenn sie damit
beginnen, sich im nationalen Parlament gegenseitig Hilfe zu leisten, wie kann
denn da die Abneigung gegen so brave, bisher verkannte Leute fortfahren,
sie gegen größere politische Solidarität der Nation einzunehmen? Dafür daß
keins der vorübergehend verbündeten beiden Extreme dem ihm ausschließlich
eigenthümlichen Theil seiner Ideale im Parlament nachjage, ist ja hinreichend
gesorgt, eben durch die Existenz einer anders gesinnten Mittelpartei. Die
Nationalliberalen sind zu liberal, um sich nicht gegen jedes Gelüst feudaler
oder bureaukratischer Reaction zu stemmen, und wiederum zu gemäßigt-prak¬
tisch und positiv, um mit in das Horn zu stoßen, auf welchem der Radica-
lismus seine idyllischen Melodien bläst.
Schon bei der Präsidentenwahl am 28. April verrieth sich, daß ein ge¬
meinsamer, starker und leidenschaftlicher Gegensatz augenblicklich die süddeut¬
schen Widersacher der Nationalpartei mit den norddeutschen Gegnern des Li¬
beralismus verbindet. Die ersten beiden Posten waren unbestritten; für den
dritten stellten die Conservativen den Herzog von Ujest, die Nationallibera¬
len den Freiherrn v. Roggenbach auf. Fünfzig antipreußisch gesinnte Süd¬
deutsche, welche in dem ersten Wahlgang für den Freiherrn v. Neurath ge¬
stimmt hatten, entschieden im zweiten für den Herzog von Ujest. Als
Süddeutscher und als Liberaler mußte Frhr. v. Roggenbach ihnen genehmer
sein; in Bezug auf preußische Führung stand ihnen der Herzog v. Ujest, der
anerkannte Führer der Nationalconservativen (Freiconservativen), mindestens
ebenso fern, wie der wahrhaft teutschgesinnte ehemalige Minister des Gro߬
herzogs von Baden. Allein dieser war fürs erste der Candidat der am meisten
gehaßten, weil am meisten gefürchteten Nationalliberalen, und fürs zweite
hatte er so zu sagen ein verführerisches individuelles Beispiel der Nichachtung
von süddeutscher Selbstherrlichkeit und Sonderexistenz aufgestellt: — das
entschied.
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