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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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seine ganze Zukunft in das Bewußtsein getreten wäre? Ebenso unter¬
liegt die Annahme eines in der Wüste bestandenen Seelenkampfes Jesu,
der an die Stelle der Versuchung durch den Teufel zu setzen wäre, gerechte
Bedenken. Einmal kann Verfasser nicht klar machen, wie eine von diesem Vor¬
gange des inneren Seelenlebens den Jüngern zu Theil gewordene Mittheilung
sich mit der Zeit zu dem massiven Aktenstück, das jetzt vor uns liegt, irgend¬
wie verdichten konnte. Sodann ist es bei der-- vorausgesetzten -- nüchternen
und nicht in der Weise eines Luther cholerischen Gemüthsart des Herrn
schwer zu denken, wie er in einer ernstlichen Reflexion und Zweifelsregung
über das Gelingen seines Amts einen Anlauf des Teufels auf sich habe fin¬
den können. Eine solche Vorstellung würde auch eine moderne Zerrissenheit
voraussetzen, die bei einem antiken Charakter, und wenn ihm auch zum ersten¬
mal in der Welt die ganze Tiefe der Innerlichkeit aufgegangen ist, kaum an¬
nehmbar erscheint.

Aber es ist Zeit, nachdem wir die Mängel, welche dem vor uns lie¬
genden Werke aus seiner relativ conservativen Parteistellung erwachsen
sind, besprochen haben, auch nicht die ihm gewordenen Vorzüge zu ver¬
schweigen. Es hat an sich etwas Ermuthigendes, wenn man an eine
geschichtliche Forschung mit dem guten Glauben geht, daß man aus¬
reichend Geschichte treffen werde, und der Umstand, daß der Verfasser nicht
mit zu großem Mißtrauen an seine Quellen ging, hat ihn befähigt, manches
für die Ausscheidung des Wahren und des Nichtwahren dienliche in den¬
selben zu finden, dem das gegen die Quellen im voraus skeptische Vorurtheil
vielleicht gar nie nachgespürt hätte. Manches vor seiner Arbeit feststehende
Ergebniß der Kritik hat er dadurch, daß er den bewährten Bericht der Ur¬
kunde gegen deren unbewährte Berichte zeugen ließ, mit neuen Gründen ge¬
stützt, auch auf geschichtliche Einzelnheiten, an denen die dem Glauben
entwachsene Kritik vorbeigeht, ist er bei seinem vorwiegend positiven
Interesse gestoßen. Bei der Persönlichkeit Jesu, dem höchst anregenden Ab¬
schnitt von S. 441 -- 439. ist insbesondere das Verdienst "der Entdeckung
des Menschen im Menschen", die Betonung der Menschenwürde in dem
Munde des Meisters glücklich hervorgehoben. Im Uebrigen hindert seine
Positive Ricktung den Herrn Verfasser nicht an sonstiger Förderung der kri-"
dischen Arbeit durch eine ausgebreitete außerbiblische Gelehrsamkeit. Die Ge¬
schichtschreibung selber ist durch die breite Anlage, die er seinem Werke gibt,
um ein namhaftes gegen alle seitherige Ausdehnung, welche diese Auf¬
gabe der Geschichte vor ihm erhalten hatte, erweitert werden. Er darf
mit Recht S. VI. hoffen, daß die umfassende geschichtliche Fundamentirung
seines Lebens Jesu im Verhältniß zu den Vorgängern anerkannt werde,
und es sind in dieser Beziehung ebensowohl seine ausdauernden geographi-


seine ganze Zukunft in das Bewußtsein getreten wäre? Ebenso unter¬
liegt die Annahme eines in der Wüste bestandenen Seelenkampfes Jesu,
der an die Stelle der Versuchung durch den Teufel zu setzen wäre, gerechte
Bedenken. Einmal kann Verfasser nicht klar machen, wie eine von diesem Vor¬
gange des inneren Seelenlebens den Jüngern zu Theil gewordene Mittheilung
sich mit der Zeit zu dem massiven Aktenstück, das jetzt vor uns liegt, irgend¬
wie verdichten konnte. Sodann ist es bei der— vorausgesetzten — nüchternen
und nicht in der Weise eines Luther cholerischen Gemüthsart des Herrn
schwer zu denken, wie er in einer ernstlichen Reflexion und Zweifelsregung
über das Gelingen seines Amts einen Anlauf des Teufels auf sich habe fin¬
den können. Eine solche Vorstellung würde auch eine moderne Zerrissenheit
voraussetzen, die bei einem antiken Charakter, und wenn ihm auch zum ersten¬
mal in der Welt die ganze Tiefe der Innerlichkeit aufgegangen ist, kaum an¬
nehmbar erscheint.

Aber es ist Zeit, nachdem wir die Mängel, welche dem vor uns lie¬
genden Werke aus seiner relativ conservativen Parteistellung erwachsen
sind, besprochen haben, auch nicht die ihm gewordenen Vorzüge zu ver¬
schweigen. Es hat an sich etwas Ermuthigendes, wenn man an eine
geschichtliche Forschung mit dem guten Glauben geht, daß man aus¬
reichend Geschichte treffen werde, und der Umstand, daß der Verfasser nicht
mit zu großem Mißtrauen an seine Quellen ging, hat ihn befähigt, manches
für die Ausscheidung des Wahren und des Nichtwahren dienliche in den¬
selben zu finden, dem das gegen die Quellen im voraus skeptische Vorurtheil
vielleicht gar nie nachgespürt hätte. Manches vor seiner Arbeit feststehende
Ergebniß der Kritik hat er dadurch, daß er den bewährten Bericht der Ur¬
kunde gegen deren unbewährte Berichte zeugen ließ, mit neuen Gründen ge¬
stützt, auch auf geschichtliche Einzelnheiten, an denen die dem Glauben
entwachsene Kritik vorbeigeht, ist er bei seinem vorwiegend positiven
Interesse gestoßen. Bei der Persönlichkeit Jesu, dem höchst anregenden Ab¬
schnitt von S. 441 — 439. ist insbesondere das Verdienst „der Entdeckung
des Menschen im Menschen", die Betonung der Menschenwürde in dem
Munde des Meisters glücklich hervorgehoben. Im Uebrigen hindert seine
Positive Ricktung den Herrn Verfasser nicht an sonstiger Förderung der kri-«
dischen Arbeit durch eine ausgebreitete außerbiblische Gelehrsamkeit. Die Ge¬
schichtschreibung selber ist durch die breite Anlage, die er seinem Werke gibt,
um ein namhaftes gegen alle seitherige Ausdehnung, welche diese Auf¬
gabe der Geschichte vor ihm erhalten hatte, erweitert werden. Er darf
mit Recht S. VI. hoffen, daß die umfassende geschichtliche Fundamentirung
seines Lebens Jesu im Verhältniß zu den Vorgängern anerkannt werde,
und es sind in dieser Beziehung ebensowohl seine ausdauernden geographi-


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[0222] seine ganze Zukunft in das Bewußtsein getreten wäre? Ebenso unter¬ liegt die Annahme eines in der Wüste bestandenen Seelenkampfes Jesu, der an die Stelle der Versuchung durch den Teufel zu setzen wäre, gerechte Bedenken. Einmal kann Verfasser nicht klar machen, wie eine von diesem Vor¬ gange des inneren Seelenlebens den Jüngern zu Theil gewordene Mittheilung sich mit der Zeit zu dem massiven Aktenstück, das jetzt vor uns liegt, irgend¬ wie verdichten konnte. Sodann ist es bei der— vorausgesetzten — nüchternen und nicht in der Weise eines Luther cholerischen Gemüthsart des Herrn schwer zu denken, wie er in einer ernstlichen Reflexion und Zweifelsregung über das Gelingen seines Amts einen Anlauf des Teufels auf sich habe fin¬ den können. Eine solche Vorstellung würde auch eine moderne Zerrissenheit voraussetzen, die bei einem antiken Charakter, und wenn ihm auch zum ersten¬ mal in der Welt die ganze Tiefe der Innerlichkeit aufgegangen ist, kaum an¬ nehmbar erscheint. Aber es ist Zeit, nachdem wir die Mängel, welche dem vor uns lie¬ genden Werke aus seiner relativ conservativen Parteistellung erwachsen sind, besprochen haben, auch nicht die ihm gewordenen Vorzüge zu ver¬ schweigen. Es hat an sich etwas Ermuthigendes, wenn man an eine geschichtliche Forschung mit dem guten Glauben geht, daß man aus¬ reichend Geschichte treffen werde, und der Umstand, daß der Verfasser nicht mit zu großem Mißtrauen an seine Quellen ging, hat ihn befähigt, manches für die Ausscheidung des Wahren und des Nichtwahren dienliche in den¬ selben zu finden, dem das gegen die Quellen im voraus skeptische Vorurtheil vielleicht gar nie nachgespürt hätte. Manches vor seiner Arbeit feststehende Ergebniß der Kritik hat er dadurch, daß er den bewährten Bericht der Ur¬ kunde gegen deren unbewährte Berichte zeugen ließ, mit neuen Gründen ge¬ stützt, auch auf geschichtliche Einzelnheiten, an denen die dem Glauben entwachsene Kritik vorbeigeht, ist er bei seinem vorwiegend positiven Interesse gestoßen. Bei der Persönlichkeit Jesu, dem höchst anregenden Ab¬ schnitt von S. 441 — 439. ist insbesondere das Verdienst „der Entdeckung des Menschen im Menschen", die Betonung der Menschenwürde in dem Munde des Meisters glücklich hervorgehoben. Im Uebrigen hindert seine Positive Ricktung den Herrn Verfasser nicht an sonstiger Förderung der kri-« dischen Arbeit durch eine ausgebreitete außerbiblische Gelehrsamkeit. Die Ge¬ schichtschreibung selber ist durch die breite Anlage, die er seinem Werke gibt, um ein namhaftes gegen alle seitherige Ausdehnung, welche diese Auf¬ gabe der Geschichte vor ihm erhalten hatte, erweitert werden. Er darf mit Recht S. VI. hoffen, daß die umfassende geschichtliche Fundamentirung seines Lebens Jesu im Verhältniß zu den Vorgängern anerkannt werde, und es sind in dieser Beziehung ebensowohl seine ausdauernden geographi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/222>, abgerufen am 15.01.2025.