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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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auch wir glauben, "Alle, auch die scrupulösesten Zweifler gegen den Vollkom¬
menen in der Menschheit, ob er nun Jesus heiße oder ein anderer Mann,
unterschreiben können." Dasselbe ist "die Thatsache, daß Keiner in der Mensch¬
heit groß gewachsen, in dessen Person Ideal und Wirklichkeit sich so begrüßt
und berührt hat, wie in den Gesichtszügen dessen, den der ahnungsvolle
tiefe Blick alten und neuen Glaubens als das leibhaftige Ideal jubelnd be¬
willkommnet, dem das schärfste Operationsinstrument dieser qualvoll verstän¬
digen mißtrauischen Neuzeit keinen ernstlichen Schatten abgewinnt." Aber,
wie schon diese Stelle selber zeigt, unser Buch muß in Ton und Stimmung
gegenüber seinen Gegenständen und damit auch selbstverständlich in manchem,
was zur Materie gehört, von seinen Vorarbeitern der kritischen, wohl auch
der halbkritischen Schule, z. B. von den Weizsäckerschen Untersuchungen, ab¬
weichen. Bringt er doch viel Geist und Gemüth und zu denselben viel warme
Liebe und Verehrung zu seinem Jesus mit. Dadurch erhält es unstreitig oft
eine zu starke rhetorische Färbung und erinnert an eine ganz andere Rich¬
tung, als der gegen seine Gegner schlagfertige und dialeetisch gewandte Theolog
und der die minutiösesten Data klar entwirrende Historiker sonst verräth. Ge-
'wiß dürfte auch positiver gestimmten Naturen mit diesem oftmaligen Be¬
kennen der Herrlichkeit und Größe und Einzigkeit Jesu, mit dem zeitweiligen
Verfallen in die begeisterte, dithyrambische Tonart, mit dem häufigen An¬
bringen von Huldigungen, des Guten zuviel gethan und statt der Sprache -
des Katheders zuviel die Sprache der Kanzel angestimmt scheinen. Nicht zu¬
fällig ist es ferner, daß die höchst dankenswerthe, zum Abschluß der Sache
viel beitragende Charakteristik Jesu S. 441--431, 458. mit der man die
Psychologischen Aufschlüsse aus Anlaß der Versuchungsgeschichte S. 664 ff.
vergleichen muß, mehr zur Bewunderung und unbedingten Verehrung Jesu
hinreißen will, als daß sie ihn zugleich eigentlich gemüthlich nahe und unserer
Sympathie zugänglich machen würde. Auch hier wieder der große Unter¬
schied eines, wenn auch noch so sehr idealisirten, religiösen Cults.Jesu und
einer denkenden Prüfung der Züge seines Wesens. Die letztere, in ihrer
Nüchternheit könnte geneigt sein, statt mit dem Verfasser das cholerische und
melancholische Temperament in Jesus zu betonen, in ihm vielmehr jenes
Gleichgewicht des sanguinisch phlegmatischen Temperaments, welches den un¬
verwüstlichen Gleichmuth und die edelste Bonhommie, sowie die reinste Selbst¬
losigkeit und aufopferndste Hingabe an seinen Lebensberuf bei ihm möglich ge¬
wacht hat. zu finden. Ueberhaupt dürfte sie dazu hinneigen, dem Weisesten aller
Zeiten weit mehr Contemplation, die Bedürftigkeit zur Conversation, kurz weit
wehr, als man es gewöhnlich thut, von den Zügen eines Sokrates oder eines
Nathan des Weisen zu leihen, dafür aber im Interesse der damit zu gewinnen¬
den Vertiefung seines Wesens den Thatendrang, die Energie in ihm zurück-


auch wir glauben, „Alle, auch die scrupulösesten Zweifler gegen den Vollkom¬
menen in der Menschheit, ob er nun Jesus heiße oder ein anderer Mann,
unterschreiben können." Dasselbe ist „die Thatsache, daß Keiner in der Mensch¬
heit groß gewachsen, in dessen Person Ideal und Wirklichkeit sich so begrüßt
und berührt hat, wie in den Gesichtszügen dessen, den der ahnungsvolle
tiefe Blick alten und neuen Glaubens als das leibhaftige Ideal jubelnd be¬
willkommnet, dem das schärfste Operationsinstrument dieser qualvoll verstän¬
digen mißtrauischen Neuzeit keinen ernstlichen Schatten abgewinnt." Aber,
wie schon diese Stelle selber zeigt, unser Buch muß in Ton und Stimmung
gegenüber seinen Gegenständen und damit auch selbstverständlich in manchem,
was zur Materie gehört, von seinen Vorarbeitern der kritischen, wohl auch
der halbkritischen Schule, z. B. von den Weizsäckerschen Untersuchungen, ab¬
weichen. Bringt er doch viel Geist und Gemüth und zu denselben viel warme
Liebe und Verehrung zu seinem Jesus mit. Dadurch erhält es unstreitig oft
eine zu starke rhetorische Färbung und erinnert an eine ganz andere Rich¬
tung, als der gegen seine Gegner schlagfertige und dialeetisch gewandte Theolog
und der die minutiösesten Data klar entwirrende Historiker sonst verräth. Ge-
'wiß dürfte auch positiver gestimmten Naturen mit diesem oftmaligen Be¬
kennen der Herrlichkeit und Größe und Einzigkeit Jesu, mit dem zeitweiligen
Verfallen in die begeisterte, dithyrambische Tonart, mit dem häufigen An¬
bringen von Huldigungen, des Guten zuviel gethan und statt der Sprache -
des Katheders zuviel die Sprache der Kanzel angestimmt scheinen. Nicht zu¬
fällig ist es ferner, daß die höchst dankenswerthe, zum Abschluß der Sache
viel beitragende Charakteristik Jesu S. 441—431, 458. mit der man die
Psychologischen Aufschlüsse aus Anlaß der Versuchungsgeschichte S. 664 ff.
vergleichen muß, mehr zur Bewunderung und unbedingten Verehrung Jesu
hinreißen will, als daß sie ihn zugleich eigentlich gemüthlich nahe und unserer
Sympathie zugänglich machen würde. Auch hier wieder der große Unter¬
schied eines, wenn auch noch so sehr idealisirten, religiösen Cults.Jesu und
einer denkenden Prüfung der Züge seines Wesens. Die letztere, in ihrer
Nüchternheit könnte geneigt sein, statt mit dem Verfasser das cholerische und
melancholische Temperament in Jesus zu betonen, in ihm vielmehr jenes
Gleichgewicht des sanguinisch phlegmatischen Temperaments, welches den un¬
verwüstlichen Gleichmuth und die edelste Bonhommie, sowie die reinste Selbst¬
losigkeit und aufopferndste Hingabe an seinen Lebensberuf bei ihm möglich ge¬
wacht hat. zu finden. Ueberhaupt dürfte sie dazu hinneigen, dem Weisesten aller
Zeiten weit mehr Contemplation, die Bedürftigkeit zur Conversation, kurz weit
wehr, als man es gewöhnlich thut, von den Zügen eines Sokrates oder eines
Nathan des Weisen zu leihen, dafür aber im Interesse der damit zu gewinnen¬
den Vertiefung seines Wesens den Thatendrang, die Energie in ihm zurück-


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[0219] auch wir glauben, „Alle, auch die scrupulösesten Zweifler gegen den Vollkom¬ menen in der Menschheit, ob er nun Jesus heiße oder ein anderer Mann, unterschreiben können." Dasselbe ist „die Thatsache, daß Keiner in der Mensch¬ heit groß gewachsen, in dessen Person Ideal und Wirklichkeit sich so begrüßt und berührt hat, wie in den Gesichtszügen dessen, den der ahnungsvolle tiefe Blick alten und neuen Glaubens als das leibhaftige Ideal jubelnd be¬ willkommnet, dem das schärfste Operationsinstrument dieser qualvoll verstän¬ digen mißtrauischen Neuzeit keinen ernstlichen Schatten abgewinnt." Aber, wie schon diese Stelle selber zeigt, unser Buch muß in Ton und Stimmung gegenüber seinen Gegenständen und damit auch selbstverständlich in manchem, was zur Materie gehört, von seinen Vorarbeitern der kritischen, wohl auch der halbkritischen Schule, z. B. von den Weizsäckerschen Untersuchungen, ab¬ weichen. Bringt er doch viel Geist und Gemüth und zu denselben viel warme Liebe und Verehrung zu seinem Jesus mit. Dadurch erhält es unstreitig oft eine zu starke rhetorische Färbung und erinnert an eine ganz andere Rich¬ tung, als der gegen seine Gegner schlagfertige und dialeetisch gewandte Theolog und der die minutiösesten Data klar entwirrende Historiker sonst verräth. Ge- 'wiß dürfte auch positiver gestimmten Naturen mit diesem oftmaligen Be¬ kennen der Herrlichkeit und Größe und Einzigkeit Jesu, mit dem zeitweiligen Verfallen in die begeisterte, dithyrambische Tonart, mit dem häufigen An¬ bringen von Huldigungen, des Guten zuviel gethan und statt der Sprache - des Katheders zuviel die Sprache der Kanzel angestimmt scheinen. Nicht zu¬ fällig ist es ferner, daß die höchst dankenswerthe, zum Abschluß der Sache viel beitragende Charakteristik Jesu S. 441—431, 458. mit der man die Psychologischen Aufschlüsse aus Anlaß der Versuchungsgeschichte S. 664 ff. vergleichen muß, mehr zur Bewunderung und unbedingten Verehrung Jesu hinreißen will, als daß sie ihn zugleich eigentlich gemüthlich nahe und unserer Sympathie zugänglich machen würde. Auch hier wieder der große Unter¬ schied eines, wenn auch noch so sehr idealisirten, religiösen Cults.Jesu und einer denkenden Prüfung der Züge seines Wesens. Die letztere, in ihrer Nüchternheit könnte geneigt sein, statt mit dem Verfasser das cholerische und melancholische Temperament in Jesus zu betonen, in ihm vielmehr jenes Gleichgewicht des sanguinisch phlegmatischen Temperaments, welches den un¬ verwüstlichen Gleichmuth und die edelste Bonhommie, sowie die reinste Selbst¬ losigkeit und aufopferndste Hingabe an seinen Lebensberuf bei ihm möglich ge¬ wacht hat. zu finden. Ueberhaupt dürfte sie dazu hinneigen, dem Weisesten aller Zeiten weit mehr Contemplation, die Bedürftigkeit zur Conversation, kurz weit wehr, als man es gewöhnlich thut, von den Zügen eines Sokrates oder eines Nathan des Weisen zu leihen, dafür aber im Interesse der damit zu gewinnen¬ den Vertiefung seines Wesens den Thatendrang, die Energie in ihm zurück-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/219>, abgerufen am 15.01.2025.