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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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glaubens, wie Strauß entgegen bringt, und als ob sich für solche Fälle
je das Wandeln in den Fußtapfen der mythischen Ansicht ganz umgehen
ließe? Nein, weil der Verfasser in der Scheu vor der Berührung mit
dem Extrem sich sein principielles Verhältniß zu den wunderhaften Be¬
richten der Evangelien nie deutlich gemacht und weil dieses Verhältniß zu
denselben auf seinem modernen Standpunkt doch nur ein kritisches sein kann,
widerfährt es ihm, daß er in seinem dickleibigen Buche Fragmente der my¬
thischen Ansicht wie erratische Blöcke herumliegen läßt, daß er oft zersprengte
Stücke eines unsichtbaren Ganzen plötzlich dem Blicke darbietet. Ob folgende
Stellen nicht ganz Straußisch lauten? S. 364: "Diese großen Widersprüche
in so übergroßen Ereignissen (Geburt Jesu), deren Gedächtniß nicht schwanken
konnte, sind das Zeichen nicht einer Geschichte, sondern einer Sage." S.
394: "Wenn in den so sorgsam im Schriftbeweis des A. T. blätternden
christlichen Kreisen die Michastelle das Nachdenken reizte, so genügte das
vollkommen, um nicht nur Erzählungen vom bethlehemitischen Ursprung, son¬
dern den Glauben daran, trotz aller Hindernisse zu Stande zu bringen. Wie
Vieles sonst, von der Jungfraugeburt bis zum Doppelthier des Einzugs,
bis zu den Silberlingen, bis zum Blutacker ist doch durch diesen alttestament-
lichen Spürgeist zu Stande gekommen!" Bei der Taufe Jesu S. 535:
"Diese großen Unterschiede, welche uns aufgesprungen, noch eh' wir sie be¬
richten mochten, sind im Voraus die größten Anstöße dieser Geschichten."
Und S> 538: "Zu Allem hin finden wir in diesen Darstellungen der Evan¬
gelien die Spuren menschlicher Zeitgedanken." '

Seien wir aber billig: Herr Keim verkennt die Gemeinschaft mit Strauß,
die notorisch besteht und nothwendig bestehen muß, nur darum, weil ihm
der Punkt, wo sich die beiden Wege scheiden, ganz besonders ins Gesicht
fällt. Nicht umsonst haben beide Gelehrte schon länger über die Einzig¬
keit und Urbildlichkeit Jesu mit. einander Worte gewechselt. Nicht umsonst
wirft Keim seinem Gegner fortwährend, auch Vorrede S. VII, "die Par¬
teilichkeit philosophischer Voraussetzungen" vor. Nicht umsonst wird S. 4
Strauß als des Philosophen Hegels größter Schüler, der das Opfer des
historischen Christus an die höher und allein berechtigte Idee zubereitete,
geschildert. Es ist klar: das Einverständniß unseres Verfassers mit Strauß hört
in der Centralfrage: Christus des Glaubens oder Jesus der Geschichte? auf.
Er hält ganz in Einstimmung mit dem Mann, der das 19. Jahrhundert
mit der Auffindung des eigentlichen Lebensgebiets der Religion eingeweiht
hat, mit Schleiermacher, an einem Christus des Glaubens, an einem Christus,
der Autorität ist, an einer Person, die eine Neuschöpfung in der Menschheit,
eine Vollendung und Vergeistigung des göttlichen Ebenbilds (S. 357 f.) ist,
fest. Aber im Unterschied von Schleiermacher ist seine Religiosität ihrer Lebens-


glaubens, wie Strauß entgegen bringt, und als ob sich für solche Fälle
je das Wandeln in den Fußtapfen der mythischen Ansicht ganz umgehen
ließe? Nein, weil der Verfasser in der Scheu vor der Berührung mit
dem Extrem sich sein principielles Verhältniß zu den wunderhaften Be¬
richten der Evangelien nie deutlich gemacht und weil dieses Verhältniß zu
denselben auf seinem modernen Standpunkt doch nur ein kritisches sein kann,
widerfährt es ihm, daß er in seinem dickleibigen Buche Fragmente der my¬
thischen Ansicht wie erratische Blöcke herumliegen läßt, daß er oft zersprengte
Stücke eines unsichtbaren Ganzen plötzlich dem Blicke darbietet. Ob folgende
Stellen nicht ganz Straußisch lauten? S. 364: „Diese großen Widersprüche
in so übergroßen Ereignissen (Geburt Jesu), deren Gedächtniß nicht schwanken
konnte, sind das Zeichen nicht einer Geschichte, sondern einer Sage." S.
394: „Wenn in den so sorgsam im Schriftbeweis des A. T. blätternden
christlichen Kreisen die Michastelle das Nachdenken reizte, so genügte das
vollkommen, um nicht nur Erzählungen vom bethlehemitischen Ursprung, son¬
dern den Glauben daran, trotz aller Hindernisse zu Stande zu bringen. Wie
Vieles sonst, von der Jungfraugeburt bis zum Doppelthier des Einzugs,
bis zu den Silberlingen, bis zum Blutacker ist doch durch diesen alttestament-
lichen Spürgeist zu Stande gekommen!" Bei der Taufe Jesu S. 535:
„Diese großen Unterschiede, welche uns aufgesprungen, noch eh' wir sie be¬
richten mochten, sind im Voraus die größten Anstöße dieser Geschichten."
Und S> 538: „Zu Allem hin finden wir in diesen Darstellungen der Evan¬
gelien die Spuren menschlicher Zeitgedanken." '

Seien wir aber billig: Herr Keim verkennt die Gemeinschaft mit Strauß,
die notorisch besteht und nothwendig bestehen muß, nur darum, weil ihm
der Punkt, wo sich die beiden Wege scheiden, ganz besonders ins Gesicht
fällt. Nicht umsonst haben beide Gelehrte schon länger über die Einzig¬
keit und Urbildlichkeit Jesu mit. einander Worte gewechselt. Nicht umsonst
wirft Keim seinem Gegner fortwährend, auch Vorrede S. VII, „die Par¬
teilichkeit philosophischer Voraussetzungen" vor. Nicht umsonst wird S. 4
Strauß als des Philosophen Hegels größter Schüler, der das Opfer des
historischen Christus an die höher und allein berechtigte Idee zubereitete,
geschildert. Es ist klar: das Einverständniß unseres Verfassers mit Strauß hört
in der Centralfrage: Christus des Glaubens oder Jesus der Geschichte? auf.
Er hält ganz in Einstimmung mit dem Mann, der das 19. Jahrhundert
mit der Auffindung des eigentlichen Lebensgebiets der Religion eingeweiht
hat, mit Schleiermacher, an einem Christus des Glaubens, an einem Christus,
der Autorität ist, an einer Person, die eine Neuschöpfung in der Menschheit,
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[0217] glaubens, wie Strauß entgegen bringt, und als ob sich für solche Fälle je das Wandeln in den Fußtapfen der mythischen Ansicht ganz umgehen ließe? Nein, weil der Verfasser in der Scheu vor der Berührung mit dem Extrem sich sein principielles Verhältniß zu den wunderhaften Be¬ richten der Evangelien nie deutlich gemacht und weil dieses Verhältniß zu denselben auf seinem modernen Standpunkt doch nur ein kritisches sein kann, widerfährt es ihm, daß er in seinem dickleibigen Buche Fragmente der my¬ thischen Ansicht wie erratische Blöcke herumliegen läßt, daß er oft zersprengte Stücke eines unsichtbaren Ganzen plötzlich dem Blicke darbietet. Ob folgende Stellen nicht ganz Straußisch lauten? S. 364: „Diese großen Widersprüche in so übergroßen Ereignissen (Geburt Jesu), deren Gedächtniß nicht schwanken konnte, sind das Zeichen nicht einer Geschichte, sondern einer Sage." S. 394: „Wenn in den so sorgsam im Schriftbeweis des A. T. blätternden christlichen Kreisen die Michastelle das Nachdenken reizte, so genügte das vollkommen, um nicht nur Erzählungen vom bethlehemitischen Ursprung, son¬ dern den Glauben daran, trotz aller Hindernisse zu Stande zu bringen. Wie Vieles sonst, von der Jungfraugeburt bis zum Doppelthier des Einzugs, bis zu den Silberlingen, bis zum Blutacker ist doch durch diesen alttestament- lichen Spürgeist zu Stande gekommen!" Bei der Taufe Jesu S. 535: „Diese großen Unterschiede, welche uns aufgesprungen, noch eh' wir sie be¬ richten mochten, sind im Voraus die größten Anstöße dieser Geschichten." Und S> 538: „Zu Allem hin finden wir in diesen Darstellungen der Evan¬ gelien die Spuren menschlicher Zeitgedanken." ' Seien wir aber billig: Herr Keim verkennt die Gemeinschaft mit Strauß, die notorisch besteht und nothwendig bestehen muß, nur darum, weil ihm der Punkt, wo sich die beiden Wege scheiden, ganz besonders ins Gesicht fällt. Nicht umsonst haben beide Gelehrte schon länger über die Einzig¬ keit und Urbildlichkeit Jesu mit. einander Worte gewechselt. Nicht umsonst wirft Keim seinem Gegner fortwährend, auch Vorrede S. VII, „die Par¬ teilichkeit philosophischer Voraussetzungen" vor. Nicht umsonst wird S. 4 Strauß als des Philosophen Hegels größter Schüler, der das Opfer des historischen Christus an die höher und allein berechtigte Idee zubereitete, geschildert. Es ist klar: das Einverständniß unseres Verfassers mit Strauß hört in der Centralfrage: Christus des Glaubens oder Jesus der Geschichte? auf. Er hält ganz in Einstimmung mit dem Mann, der das 19. Jahrhundert mit der Auffindung des eigentlichen Lebensgebiets der Religion eingeweiht hat, mit Schleiermacher, an einem Christus des Glaubens, an einem Christus, der Autorität ist, an einer Person, die eine Neuschöpfung in der Menschheit, eine Vollendung und Vergeistigung des göttlichen Ebenbilds (S. 357 f.) ist, fest. Aber im Unterschied von Schleiermacher ist seine Religiosität ihrer Lebens-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/217>, abgerufen am 15.01.2025.