Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

faltung der vaterländischen Dinge verharren zu sehen. Und so ganz anders
könnte es sein.

Aber, höre ich fragen, wäre es denn wirklich so ganz, so völlig unmög¬
lich? -- Freilich ist es schwer für einen Auswärtigen, welcher die lange Lei¬
denszeit unter der dänischen Herrschaft nicht durchlebt, welcher Personen und
Dinge nicht kennen gelernt hat in jenen Verhältnissen, die stets eine harte
Probe für den Charakter der aus der Masse hervortretenden Männer waren,
die Tiefe der Abneigung zu ermessen, mit welcher die Leiter der Gesammt-
staatspartei betrachtet werden. Es ist leider so, und wir berufen uns auf
das Zeugniß der preußischen Partei selbst. Wer den Ereignissen und den
handelnden Personen näher zu stehen Gelegenheit hatte, war längst von der
Nutzlosigkeit des Beginnens überzeugt, und diese Ueberzeugung hat sich jetzt
auch der Masse der preußischen Partei bemeistert. Dies ist um so begreiflicher,
wenn man bei jeder politischen Action jene Häupter der Gesammtstaats-
Partei, die selbst den Mangel jedweden Anhanges am schwersten empfinden,
sich bemühen sieht, das. was dem preußischen Staate gilt, als ein Vertrauens-
Votum für die eigene Person auszubeuten.




Ms Meran.

Bei der Einfahrt in Tirol, hinter Kufstein, als der Abend zu dämmern
anfing, trat plötzlich eine lange, dunkle Gestalt in unseren Wagen. Der
schwarze Rock fiel dem Manne bis auf die Knöchel; der niedere Hut mit der
Schciufelkrempe saß über einem hagern, blaßgelben Gesicht; lang und eifrig
bewegten sich die Lippen, während seine Finger noch an der Reisetasche
nestelten. Der leibhaftige Genius des Landes! Aber die Erscheinung ist
weder Genius noch Landeskind, nur ein armer Teufel von Laienbruder; er
kommt im "bloßen Rock", wie er geht und steht, aus Ungarn; ist die "Kalter"
gewohnt, weil er früher "bei's Geschäft" war, im Specereigewölb; und er frägt:
könnt' ihm Jemand sagen, wo in Innsbruck die Jesuiten wohnten ? -- Kommens
später mit mir, erwiedert ein kleiner alter Herr; in meiner Gassen, ganz
unten, da seins; auf einer Seiten die Militärkasern und gegenüber --
(kichernd) -- die Jesuitenkasern! Na -- (wirft den Kopf zurück) -- I kaann
mir nit helfen! -- Das war das erste Wort, das ich November 1867 aus
tirolischen Mund auf tirolischen Boden hörte.
'

Man spricht überall soviel von der "Finsterniß in den tiroler Bergen",
daß mancher Fremde sich hier anfangs enttäuscht fühlt: Er erwartet zu viel


Grenzboten II. 1868. 20

faltung der vaterländischen Dinge verharren zu sehen. Und so ganz anders
könnte es sein.

Aber, höre ich fragen, wäre es denn wirklich so ganz, so völlig unmög¬
lich? — Freilich ist es schwer für einen Auswärtigen, welcher die lange Lei¬
denszeit unter der dänischen Herrschaft nicht durchlebt, welcher Personen und
Dinge nicht kennen gelernt hat in jenen Verhältnissen, die stets eine harte
Probe für den Charakter der aus der Masse hervortretenden Männer waren,
die Tiefe der Abneigung zu ermessen, mit welcher die Leiter der Gesammt-
staatspartei betrachtet werden. Es ist leider so, und wir berufen uns auf
das Zeugniß der preußischen Partei selbst. Wer den Ereignissen und den
handelnden Personen näher zu stehen Gelegenheit hatte, war längst von der
Nutzlosigkeit des Beginnens überzeugt, und diese Ueberzeugung hat sich jetzt
auch der Masse der preußischen Partei bemeistert. Dies ist um so begreiflicher,
wenn man bei jeder politischen Action jene Häupter der Gesammtstaats-
Partei, die selbst den Mangel jedweden Anhanges am schwersten empfinden,
sich bemühen sieht, das. was dem preußischen Staate gilt, als ein Vertrauens-
Votum für die eigene Person auszubeuten.




Ms Meran.

Bei der Einfahrt in Tirol, hinter Kufstein, als der Abend zu dämmern
anfing, trat plötzlich eine lange, dunkle Gestalt in unseren Wagen. Der
schwarze Rock fiel dem Manne bis auf die Knöchel; der niedere Hut mit der
Schciufelkrempe saß über einem hagern, blaßgelben Gesicht; lang und eifrig
bewegten sich die Lippen, während seine Finger noch an der Reisetasche
nestelten. Der leibhaftige Genius des Landes! Aber die Erscheinung ist
weder Genius noch Landeskind, nur ein armer Teufel von Laienbruder; er
kommt im „bloßen Rock", wie er geht und steht, aus Ungarn; ist die „Kalter"
gewohnt, weil er früher „bei's Geschäft" war, im Specereigewölb; und er frägt:
könnt' ihm Jemand sagen, wo in Innsbruck die Jesuiten wohnten ? — Kommens
später mit mir, erwiedert ein kleiner alter Herr; in meiner Gassen, ganz
unten, da seins; auf einer Seiten die Militärkasern und gegenüber —
(kichernd) — die Jesuitenkasern! Na — (wirft den Kopf zurück) — I kaann
mir nit helfen! — Das war das erste Wort, das ich November 1867 aus
tirolischen Mund auf tirolischen Boden hörte.
'

Man spricht überall soviel von der „Finsterniß in den tiroler Bergen",
daß mancher Fremde sich hier anfangs enttäuscht fühlt: Er erwartet zu viel


Grenzboten II. 1868. 20
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0197" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117729"/>
          <p xml:id="ID_611" prev="#ID_610"> faltung der vaterländischen Dinge verharren zu sehen. Und so ganz anders<lb/>
könnte es sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_612"> Aber, höre ich fragen, wäre es denn wirklich so ganz, so völlig unmög¬<lb/>
lich? &#x2014; Freilich ist es schwer für einen Auswärtigen, welcher die lange Lei¬<lb/>
denszeit unter der dänischen Herrschaft nicht durchlebt, welcher Personen und<lb/>
Dinge nicht kennen gelernt hat in jenen Verhältnissen, die stets eine harte<lb/>
Probe für den Charakter der aus der Masse hervortretenden Männer waren,<lb/>
die Tiefe der Abneigung zu ermessen, mit welcher die Leiter der Gesammt-<lb/>
staatspartei betrachtet werden. Es ist leider so, und wir berufen uns auf<lb/>
das Zeugniß der preußischen Partei selbst. Wer den Ereignissen und den<lb/>
handelnden Personen näher zu stehen Gelegenheit hatte, war längst von der<lb/>
Nutzlosigkeit des Beginnens überzeugt, und diese Ueberzeugung hat sich jetzt<lb/>
auch der Masse der preußischen Partei bemeistert. Dies ist um so begreiflicher,<lb/>
wenn man bei jeder politischen Action jene Häupter der Gesammtstaats-<lb/>
Partei, die selbst den Mangel jedweden Anhanges am schwersten empfinden,<lb/>
sich bemühen sieht, das. was dem preußischen Staate gilt, als ein Vertrauens-<lb/>
Votum für die eigene Person auszubeuten.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Ms Meran.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_613"> Bei der Einfahrt in Tirol, hinter Kufstein, als der Abend zu dämmern<lb/>
anfing, trat plötzlich eine lange, dunkle Gestalt in unseren Wagen. Der<lb/>
schwarze Rock fiel dem Manne bis auf die Knöchel; der niedere Hut mit der<lb/>
Schciufelkrempe saß über einem hagern, blaßgelben Gesicht; lang und eifrig<lb/>
bewegten sich die Lippen, während seine Finger noch an der Reisetasche<lb/>
nestelten. Der leibhaftige Genius des Landes! Aber die Erscheinung ist<lb/>
weder Genius noch Landeskind, nur ein armer Teufel von Laienbruder; er<lb/>
kommt im &#x201E;bloßen Rock", wie er geht und steht, aus Ungarn; ist die &#x201E;Kalter"<lb/>
gewohnt, weil er früher &#x201E;bei's Geschäft" war, im Specereigewölb; und er frägt:<lb/>
könnt' ihm Jemand sagen, wo in Innsbruck die Jesuiten wohnten ? &#x2014; Kommens<lb/>
später mit mir, erwiedert ein kleiner alter Herr; in meiner Gassen, ganz<lb/>
unten, da seins; auf einer Seiten die Militärkasern und gegenüber &#x2014;<lb/>
(kichernd) &#x2014; die Jesuitenkasern! Na &#x2014; (wirft den Kopf zurück) &#x2014; I kaann<lb/>
mir nit helfen! &#x2014; Das war das erste Wort, das ich November 1867 aus<lb/>
tirolischen Mund auf tirolischen Boden hörte.<lb/>
'</p><lb/>
          <p xml:id="ID_614" next="#ID_615"> Man spricht überall soviel von der &#x201E;Finsterniß in den tiroler Bergen",<lb/>
daß mancher Fremde sich hier anfangs enttäuscht fühlt: Er erwartet zu viel</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1868. 20</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0197] faltung der vaterländischen Dinge verharren zu sehen. Und so ganz anders könnte es sein. Aber, höre ich fragen, wäre es denn wirklich so ganz, so völlig unmög¬ lich? — Freilich ist es schwer für einen Auswärtigen, welcher die lange Lei¬ denszeit unter der dänischen Herrschaft nicht durchlebt, welcher Personen und Dinge nicht kennen gelernt hat in jenen Verhältnissen, die stets eine harte Probe für den Charakter der aus der Masse hervortretenden Männer waren, die Tiefe der Abneigung zu ermessen, mit welcher die Leiter der Gesammt- staatspartei betrachtet werden. Es ist leider so, und wir berufen uns auf das Zeugniß der preußischen Partei selbst. Wer den Ereignissen und den handelnden Personen näher zu stehen Gelegenheit hatte, war längst von der Nutzlosigkeit des Beginnens überzeugt, und diese Ueberzeugung hat sich jetzt auch der Masse der preußischen Partei bemeistert. Dies ist um so begreiflicher, wenn man bei jeder politischen Action jene Häupter der Gesammtstaats- Partei, die selbst den Mangel jedweden Anhanges am schwersten empfinden, sich bemühen sieht, das. was dem preußischen Staate gilt, als ein Vertrauens- Votum für die eigene Person auszubeuten. Ms Meran. Bei der Einfahrt in Tirol, hinter Kufstein, als der Abend zu dämmern anfing, trat plötzlich eine lange, dunkle Gestalt in unseren Wagen. Der schwarze Rock fiel dem Manne bis auf die Knöchel; der niedere Hut mit der Schciufelkrempe saß über einem hagern, blaßgelben Gesicht; lang und eifrig bewegten sich die Lippen, während seine Finger noch an der Reisetasche nestelten. Der leibhaftige Genius des Landes! Aber die Erscheinung ist weder Genius noch Landeskind, nur ein armer Teufel von Laienbruder; er kommt im „bloßen Rock", wie er geht und steht, aus Ungarn; ist die „Kalter" gewohnt, weil er früher „bei's Geschäft" war, im Specereigewölb; und er frägt: könnt' ihm Jemand sagen, wo in Innsbruck die Jesuiten wohnten ? — Kommens später mit mir, erwiedert ein kleiner alter Herr; in meiner Gassen, ganz unten, da seins; auf einer Seiten die Militärkasern und gegenüber — (kichernd) — die Jesuitenkasern! Na — (wirft den Kopf zurück) — I kaann mir nit helfen! — Das war das erste Wort, das ich November 1867 aus tirolischen Mund auf tirolischen Boden hörte. ' Man spricht überall soviel von der „Finsterniß in den tiroler Bergen", daß mancher Fremde sich hier anfangs enttäuscht fühlt: Er erwartet zu viel Grenzboten II. 1868. 20

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/197
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/197>, abgerufen am 15.01.2025.