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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band.

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züge des Harmodius -- der Kopf des Aristogiton ist nicht erhalten -- die
kräftigen, in den Umrissen wie im Detail streng und etwas hart behandelten
Körperformen, der einfache, steife Faltenwurf des über den Arm geworfenen
Mantels sind bezeichnende Merkmale der älteren attischen Kunst, von der
wir in ihnen ein unschätzbares Zeugniß besitzen. Es ist auch bei diesem
Exemplar nicht geblieben. Im Garten Boboli zu Florenz stehen zwei als
Gladiatoren ergänzte Marmorstatuen, deren antike Theile sich unverkennbar
als einer anderen Copie der Tyrannenmörder angehörig ausgewiesen haben.
Bei genauer Uebereinstimmung im wesentlichen, auch in den Verhältnissen,
zeigen sie etwas mehr Freiheit und Feinheit; ob dies auf Rechnung des
Copisten zu setzen sei, oder ob von beiden attischen Gruppen Copien erhalten
sind, mag noch unentschieden bleiben.

Mit ähnlichen Mitteln hat Brunn eine Copie nach Myron nachge¬
wiesen. Von Myron stand in Athen auf der Burg eine Gruppe. Athene,
die zornig dem Marsyas wehrte, der begierig nach den von der Göttin
weggeworfenen Flöten griff, "sie anstaunte" wie Plinius sagt, der unter an¬
dern ein Verzeichnis) von Kunstschätzen der Akropolis ausgezogen hat. Nach¬
dem man auf einer attischen Münze und einem in Athen gefundenen Relief
Nachbildungen dieser Gruppe nachgewiesen hatte, erkannte Brunn in einer
übel restaurirten Marmorstatue des Laterans den zu derselben gehörigen
Satyr. Das hastige Zugreifen und das erschreckte Zurückfahren sind in den
widersprechenden Bewegungen des Körpers, begehrliche Verwunderung und
furchtsame Scheu in dem thierisch rohen Gesicht mit so drastischer Lebendig¬
keit in einen Moment zusammengefaßt, daß die Eigenthümlichkeit des
Myron, deren charakteristische Züge auch in der Formbehandlung kenntlich
sind, in der überraschendsten Weise hervortritt.

Aber ungleich vertheilt das Schicksal auch in der Kunstgeschichte seine
Gaben. Zu den in Rom beliebtesten Künstlern gehörte Polykl et, den
man im allgemeinen selbst Phidias vorgezogen zu haben scheint, und zu den
Werken, die vor allen zu sprichwörtlicher Berühmtheit gelangten, sein Dory-
phorus, die Statue eines in tüchtiger Uebung gereisten, kräftigen Jüng¬
lings, ruhig mit einer Lanze stehend. Er galt für das Muster eines im
schönsten Ebenmaß gebildeten jugendlichen Körpers, man studirte und demon-
strirte an ihm die Proportionslehre und nannte ihn deshalb den Canon.
Man kann mit der größten Zuversicht behaupten, daß sich unter den in Rom
gefundenen Statuen von diesem Doryphorus Copien befinden müssen; man
hat es an sorgfältigem nachspüren nicht fehlen lassen, mehr als einmal
glaubte man ihn ermittelt zu haben, aber noch ist es nicht gelungen, dies
Werk mit Evidenz nachzuweisen.

Wie unschätzbar auch der Gewinn der durch Lord Elgin zugänglich ge-


züge des Harmodius — der Kopf des Aristogiton ist nicht erhalten — die
kräftigen, in den Umrissen wie im Detail streng und etwas hart behandelten
Körperformen, der einfache, steife Faltenwurf des über den Arm geworfenen
Mantels sind bezeichnende Merkmale der älteren attischen Kunst, von der
wir in ihnen ein unschätzbares Zeugniß besitzen. Es ist auch bei diesem
Exemplar nicht geblieben. Im Garten Boboli zu Florenz stehen zwei als
Gladiatoren ergänzte Marmorstatuen, deren antike Theile sich unverkennbar
als einer anderen Copie der Tyrannenmörder angehörig ausgewiesen haben.
Bei genauer Uebereinstimmung im wesentlichen, auch in den Verhältnissen,
zeigen sie etwas mehr Freiheit und Feinheit; ob dies auf Rechnung des
Copisten zu setzen sei, oder ob von beiden attischen Gruppen Copien erhalten
sind, mag noch unentschieden bleiben.

Mit ähnlichen Mitteln hat Brunn eine Copie nach Myron nachge¬
wiesen. Von Myron stand in Athen auf der Burg eine Gruppe. Athene,
die zornig dem Marsyas wehrte, der begierig nach den von der Göttin
weggeworfenen Flöten griff, „sie anstaunte" wie Plinius sagt, der unter an¬
dern ein Verzeichnis) von Kunstschätzen der Akropolis ausgezogen hat. Nach¬
dem man auf einer attischen Münze und einem in Athen gefundenen Relief
Nachbildungen dieser Gruppe nachgewiesen hatte, erkannte Brunn in einer
übel restaurirten Marmorstatue des Laterans den zu derselben gehörigen
Satyr. Das hastige Zugreifen und das erschreckte Zurückfahren sind in den
widersprechenden Bewegungen des Körpers, begehrliche Verwunderung und
furchtsame Scheu in dem thierisch rohen Gesicht mit so drastischer Lebendig¬
keit in einen Moment zusammengefaßt, daß die Eigenthümlichkeit des
Myron, deren charakteristische Züge auch in der Formbehandlung kenntlich
sind, in der überraschendsten Weise hervortritt.

Aber ungleich vertheilt das Schicksal auch in der Kunstgeschichte seine
Gaben. Zu den in Rom beliebtesten Künstlern gehörte Polykl et, den
man im allgemeinen selbst Phidias vorgezogen zu haben scheint, und zu den
Werken, die vor allen zu sprichwörtlicher Berühmtheit gelangten, sein Dory-
phorus, die Statue eines in tüchtiger Uebung gereisten, kräftigen Jüng¬
lings, ruhig mit einer Lanze stehend. Er galt für das Muster eines im
schönsten Ebenmaß gebildeten jugendlichen Körpers, man studirte und demon-
strirte an ihm die Proportionslehre und nannte ihn deshalb den Canon.
Man kann mit der größten Zuversicht behaupten, daß sich unter den in Rom
gefundenen Statuen von diesem Doryphorus Copien befinden müssen; man
hat es an sorgfältigem nachspüren nicht fehlen lassen, mehr als einmal
glaubte man ihn ermittelt zu haben, aber noch ist es nicht gelungen, dies
Werk mit Evidenz nachzuweisen.

Wie unschätzbar auch der Gewinn der durch Lord Elgin zugänglich ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_362043/106>, abgerufen am 15.01.2025.