Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

Bild:
<< vorherige Seite

einen starken Rückschlag zu Gunsten liberaler Grundsätze übte, ließ er unbe¬
achtet, ja als Lord Grey in der Adreßdebatte seine Hoffnung ausdrückte,
daß die Reformfrage nicht wie die Katholikenemancipation so lange hinaus¬
geschoben werden möge, bis die Regierung dem Druck der Umstände das
nachgeben müsse, was sie grundsätzlich verweigert, erklärte Wellington, das
Land besitze nach seiner Ansicht eine Verfassung, welche alle Zwecke einer
guten Gesetzgebung vollständig befriedige und das volle Vertrauen der Be¬
völkerung genieße; er werde nicht nur keine Reformmaßregel vorschlagen,
sondern sich jeder von Anderen vorgeschlagenen widersetzen. Diese unvor¬
sichtige Erklärung, welche der Reform alle Aussicht abschnitt, so lange die
Tones am Ruder blieben, wurde von seiner eigenen Partei als ein Fehler
empfunden; im Volke wirkte sie wie eine Herausforderung. Ein großer Sturm
brach jetzt los, überall gab es Aufstände, die feierliche Auffahrt des Königs
in der City mußte aufgegeben werden, weil man Beschimpfungen fürchtete,
die Neuwahlen, welche der Tod Georg's IV. herbeigeführt, hätten unter
dem Einfluß der Ereignisse in Paris und Brüssel stattgefunden, die Majo¬
rität im Unterhause war sehr verändert, das Cabinet hatte an SO Stimmen
verloren und trat auf Peel's Rath zurück,' als es in einer Abstimmung über
die Civilliste geschlagen ward, um nicht bei dem schon angekündigten Antrag
Brougham's auf Reform zu unterliegen. Earl Grey übernahm die Auf¬
gabe, das erste Whigministerium seit 60 Jahren zu bilden und that dies,
indem er sich vom Könige Vollmacht ausbedang, die Reform zum Gegen¬
stand einer eingreifenden Maßregel zu machen. Er war zur Vermittelung
der sich schroff entgegenstehenden Ansichten besonders geeignet. Von Jugend
auf ein eifriger Whig und Freund von Fox hatte er seine freisinnigen
Grundsätze an der Hand der Erfahrung gemäßigt, ohne sie aufzugeben; kein
Liberaler konnte füglich gegen diesen bewährten Kämpfer für Reform oppo-
niren, andererseits bot er dem wohlgesinnten aber etwas ängstlichen König
Garantien gegen zu weitgehende Schritte. Am 1. März 1831 brachte Lord
John Russell seine Bill ein. Bisher lag die Beschickung des Hauses in den
Händen

1) der Grafschaften, wo die Wähler Landedelleute und kleine von diesen
abhängige 40 Shilling.Freisassen waren,

2) der Burgflecken, welche unter dem unbedingten Einfluß der Aristo¬
kratie standen,

3) der Burgflecken, welche in der Hand der Regierung waren,

4) der größern Städte, in denen wesentlich die Municipalbehörden die
Wahl entschieden.

Jetzt sollten

1) alle Flecken unter 2000 Einwohner das Wahlrecht verlieren und alle


einen starken Rückschlag zu Gunsten liberaler Grundsätze übte, ließ er unbe¬
achtet, ja als Lord Grey in der Adreßdebatte seine Hoffnung ausdrückte,
daß die Reformfrage nicht wie die Katholikenemancipation so lange hinaus¬
geschoben werden möge, bis die Regierung dem Druck der Umstände das
nachgeben müsse, was sie grundsätzlich verweigert, erklärte Wellington, das
Land besitze nach seiner Ansicht eine Verfassung, welche alle Zwecke einer
guten Gesetzgebung vollständig befriedige und das volle Vertrauen der Be¬
völkerung genieße; er werde nicht nur keine Reformmaßregel vorschlagen,
sondern sich jeder von Anderen vorgeschlagenen widersetzen. Diese unvor¬
sichtige Erklärung, welche der Reform alle Aussicht abschnitt, so lange die
Tones am Ruder blieben, wurde von seiner eigenen Partei als ein Fehler
empfunden; im Volke wirkte sie wie eine Herausforderung. Ein großer Sturm
brach jetzt los, überall gab es Aufstände, die feierliche Auffahrt des Königs
in der City mußte aufgegeben werden, weil man Beschimpfungen fürchtete,
die Neuwahlen, welche der Tod Georg's IV. herbeigeführt, hätten unter
dem Einfluß der Ereignisse in Paris und Brüssel stattgefunden, die Majo¬
rität im Unterhause war sehr verändert, das Cabinet hatte an SO Stimmen
verloren und trat auf Peel's Rath zurück,' als es in einer Abstimmung über
die Civilliste geschlagen ward, um nicht bei dem schon angekündigten Antrag
Brougham's auf Reform zu unterliegen. Earl Grey übernahm die Auf¬
gabe, das erste Whigministerium seit 60 Jahren zu bilden und that dies,
indem er sich vom Könige Vollmacht ausbedang, die Reform zum Gegen¬
stand einer eingreifenden Maßregel zu machen. Er war zur Vermittelung
der sich schroff entgegenstehenden Ansichten besonders geeignet. Von Jugend
auf ein eifriger Whig und Freund von Fox hatte er seine freisinnigen
Grundsätze an der Hand der Erfahrung gemäßigt, ohne sie aufzugeben; kein
Liberaler konnte füglich gegen diesen bewährten Kämpfer für Reform oppo-
niren, andererseits bot er dem wohlgesinnten aber etwas ängstlichen König
Garantien gegen zu weitgehende Schritte. Am 1. März 1831 brachte Lord
John Russell seine Bill ein. Bisher lag die Beschickung des Hauses in den
Händen

1) der Grafschaften, wo die Wähler Landedelleute und kleine von diesen
abhängige 40 Shilling.Freisassen waren,

2) der Burgflecken, welche unter dem unbedingten Einfluß der Aristo¬
kratie standen,

3) der Burgflecken, welche in der Hand der Regierung waren,

4) der größern Städte, in denen wesentlich die Municipalbehörden die
Wahl entschieden.

Jetzt sollten

1) alle Flecken unter 2000 Einwohner das Wahlrecht verlieren und alle


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0099" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287371"/>
            <p xml:id="ID_226" prev="#ID_225"> einen starken Rückschlag zu Gunsten liberaler Grundsätze übte, ließ er unbe¬<lb/>
achtet, ja als Lord Grey in der Adreßdebatte seine Hoffnung ausdrückte,<lb/>
daß die Reformfrage nicht wie die Katholikenemancipation so lange hinaus¬<lb/>
geschoben werden möge, bis die Regierung dem Druck der Umstände das<lb/>
nachgeben müsse, was sie grundsätzlich verweigert, erklärte Wellington, das<lb/>
Land besitze nach seiner Ansicht eine Verfassung, welche alle Zwecke einer<lb/>
guten Gesetzgebung vollständig befriedige und das volle Vertrauen der Be¬<lb/>
völkerung genieße; er werde nicht nur keine Reformmaßregel vorschlagen,<lb/>
sondern sich jeder von Anderen vorgeschlagenen widersetzen. Diese unvor¬<lb/>
sichtige Erklärung, welche der Reform alle Aussicht abschnitt, so lange die<lb/>
Tones am Ruder blieben, wurde von seiner eigenen Partei als ein Fehler<lb/>
empfunden; im Volke wirkte sie wie eine Herausforderung. Ein großer Sturm<lb/>
brach jetzt los, überall gab es Aufstände, die feierliche Auffahrt des Königs<lb/>
in der City mußte aufgegeben werden, weil man Beschimpfungen fürchtete,<lb/>
die Neuwahlen, welche der Tod Georg's IV. herbeigeführt, hätten unter<lb/>
dem Einfluß der Ereignisse in Paris und Brüssel stattgefunden, die Majo¬<lb/>
rität im Unterhause war sehr verändert, das Cabinet hatte an SO Stimmen<lb/>
verloren und trat auf Peel's Rath zurück,' als es in einer Abstimmung über<lb/>
die Civilliste geschlagen ward, um nicht bei dem schon angekündigten Antrag<lb/>
Brougham's auf Reform zu unterliegen. Earl Grey übernahm die Auf¬<lb/>
gabe, das erste Whigministerium seit 60 Jahren zu bilden und that dies,<lb/>
indem er sich vom Könige Vollmacht ausbedang, die Reform zum Gegen¬<lb/>
stand einer eingreifenden Maßregel zu machen. Er war zur Vermittelung<lb/>
der sich schroff entgegenstehenden Ansichten besonders geeignet. Von Jugend<lb/>
auf ein eifriger Whig und Freund von Fox hatte er seine freisinnigen<lb/>
Grundsätze an der Hand der Erfahrung gemäßigt, ohne sie aufzugeben; kein<lb/>
Liberaler konnte füglich gegen diesen bewährten Kämpfer für Reform oppo-<lb/>
niren, andererseits bot er dem wohlgesinnten aber etwas ängstlichen König<lb/>
Garantien gegen zu weitgehende Schritte. Am 1. März 1831 brachte Lord<lb/>
John Russell seine Bill ein. Bisher lag die Beschickung des Hauses in den<lb/>
Händen</p><lb/>
            <p xml:id="ID_227"> 1) der Grafschaften, wo die Wähler Landedelleute und kleine von diesen<lb/>
abhängige 40 Shilling.Freisassen waren,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_228"> 2) der Burgflecken, welche unter dem unbedingten Einfluß der Aristo¬<lb/>
kratie standen,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_229"> 3) der Burgflecken, welche in der Hand der Regierung waren,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_230"> 4) der größern Städte, in denen wesentlich die Municipalbehörden die<lb/>
Wahl entschieden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_231"> Jetzt sollten</p><lb/>
            <p xml:id="ID_232" next="#ID_233"> 1) alle Flecken unter 2000 Einwohner das Wahlrecht verlieren und alle</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0099] einen starken Rückschlag zu Gunsten liberaler Grundsätze übte, ließ er unbe¬ achtet, ja als Lord Grey in der Adreßdebatte seine Hoffnung ausdrückte, daß die Reformfrage nicht wie die Katholikenemancipation so lange hinaus¬ geschoben werden möge, bis die Regierung dem Druck der Umstände das nachgeben müsse, was sie grundsätzlich verweigert, erklärte Wellington, das Land besitze nach seiner Ansicht eine Verfassung, welche alle Zwecke einer guten Gesetzgebung vollständig befriedige und das volle Vertrauen der Be¬ völkerung genieße; er werde nicht nur keine Reformmaßregel vorschlagen, sondern sich jeder von Anderen vorgeschlagenen widersetzen. Diese unvor¬ sichtige Erklärung, welche der Reform alle Aussicht abschnitt, so lange die Tones am Ruder blieben, wurde von seiner eigenen Partei als ein Fehler empfunden; im Volke wirkte sie wie eine Herausforderung. Ein großer Sturm brach jetzt los, überall gab es Aufstände, die feierliche Auffahrt des Königs in der City mußte aufgegeben werden, weil man Beschimpfungen fürchtete, die Neuwahlen, welche der Tod Georg's IV. herbeigeführt, hätten unter dem Einfluß der Ereignisse in Paris und Brüssel stattgefunden, die Majo¬ rität im Unterhause war sehr verändert, das Cabinet hatte an SO Stimmen verloren und trat auf Peel's Rath zurück,' als es in einer Abstimmung über die Civilliste geschlagen ward, um nicht bei dem schon angekündigten Antrag Brougham's auf Reform zu unterliegen. Earl Grey übernahm die Auf¬ gabe, das erste Whigministerium seit 60 Jahren zu bilden und that dies, indem er sich vom Könige Vollmacht ausbedang, die Reform zum Gegen¬ stand einer eingreifenden Maßregel zu machen. Er war zur Vermittelung der sich schroff entgegenstehenden Ansichten besonders geeignet. Von Jugend auf ein eifriger Whig und Freund von Fox hatte er seine freisinnigen Grundsätze an der Hand der Erfahrung gemäßigt, ohne sie aufzugeben; kein Liberaler konnte füglich gegen diesen bewährten Kämpfer für Reform oppo- niren, andererseits bot er dem wohlgesinnten aber etwas ängstlichen König Garantien gegen zu weitgehende Schritte. Am 1. März 1831 brachte Lord John Russell seine Bill ein. Bisher lag die Beschickung des Hauses in den Händen 1) der Grafschaften, wo die Wähler Landedelleute und kleine von diesen abhängige 40 Shilling.Freisassen waren, 2) der Burgflecken, welche unter dem unbedingten Einfluß der Aristo¬ kratie standen, 3) der Burgflecken, welche in der Hand der Regierung waren, 4) der größern Städte, in denen wesentlich die Municipalbehörden die Wahl entschieden. Jetzt sollten 1) alle Flecken unter 2000 Einwohner das Wahlrecht verlieren und alle

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/99
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/99>, abgerufen am 11.02.2025.