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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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zu lesen, zu schreiben, sich zu unterhalten, sich zu erfrischen, unter Umständen
auch die Nacht zuzubringen. Wer, der sich jemals um die Zustände des
niedern Volks gekümmert hat, wüßte nicht, welche Gefahren in der leeren Muße
des Sonntagnachmittags schlummern! Im besseren Falle ist sie fruchtbar an
verfrühten Ehen; im schlimmeren an Unordnungen aller Art, Prostitution
und Trunksucht. Die Darbietung eines angenehmen Aufenthaltsortes würde
zahlreiche Mädchen dieser Gefahr des reinen Müßiggangs entziehen und für
einen Theil derselben die Aussicht eröffnen, daß sie sich vermöge eigener An¬
strengung über ihre angeborene Niedrigkeit und Ungesittung erheben.

Geglückt ist ferner in England das Streben, die Universitätsprüfungen
auch Mädchen und Frauen zugänglich zu machen. Wenn der Ausfall der
ersten gemeinsamen oder gemischten Prüfungen die Organe der Fraueneman¬
cipation zu Dithyramben begeistert hat, weil die weiblichen Examinanden sich
den männlichen im Durchschnitt überlegen zeigten, so ist das freilich etwas
gedankenlos; denn im Anfang werden natürlich nur die muthigsten und tüch¬
tigsten jungen Damen in diese neue Arena eingetreten sein, und erst die Er¬
fahrung späterer Jahre kann das wahre Verhältniß der Geschlechter zu ein¬
ander in dieser Beziehung herausstellen. Im Uebrigen ist damit eine weite
Bahn geöffnet; die Studien blühen, die Geister erwachen -- könnte man mit
Hütten jetzt von der englischen Frauenwelt sagen, in die ein merkwürdiger
Drang nach neuem Wissen und neuem Thun gefahren ist. Eine Miß Thome
hat neulich das Apothekerexamen aufs Glänzendste bestanden, eine Miß Gar¬
rett hält in London Vorlesungen über Physiologie und Hygiene speciell für
das solcher Aufklärung sehr bedürftige weibliche Geschlecht. Wie lange wird
es dauern, so erheben sich irgendwo in Londons Nähe die stattlichen Räume
einer Hochschule für das weibliche Geschlecht, nicht wie die zu Poughkeepsie
in den Vereinigten Staaten von einem Einzelnen ins Werk gerichtet,
sondern durch Selbstbestimmung einer großen Zahl von englischen Frauen
und Mädchen gegründet und nach Erziehungsideen eingerichtet, die unmittel¬
bar aus dem vorwärtsströmenden geistigen Fonds der Zeit geschöpft, nicht ver¬
alteten Schablonen entlehnt sind? Vielleicht daß daraus selbst der Unter¬
richt des männlichen Geschlechts auf seinen höchsten Stufen einen Anstoß zu
gründlicher Revision empfängt.




zu lesen, zu schreiben, sich zu unterhalten, sich zu erfrischen, unter Umständen
auch die Nacht zuzubringen. Wer, der sich jemals um die Zustände des
niedern Volks gekümmert hat, wüßte nicht, welche Gefahren in der leeren Muße
des Sonntagnachmittags schlummern! Im besseren Falle ist sie fruchtbar an
verfrühten Ehen; im schlimmeren an Unordnungen aller Art, Prostitution
und Trunksucht. Die Darbietung eines angenehmen Aufenthaltsortes würde
zahlreiche Mädchen dieser Gefahr des reinen Müßiggangs entziehen und für
einen Theil derselben die Aussicht eröffnen, daß sie sich vermöge eigener An¬
strengung über ihre angeborene Niedrigkeit und Ungesittung erheben.

Geglückt ist ferner in England das Streben, die Universitätsprüfungen
auch Mädchen und Frauen zugänglich zu machen. Wenn der Ausfall der
ersten gemeinsamen oder gemischten Prüfungen die Organe der Fraueneman¬
cipation zu Dithyramben begeistert hat, weil die weiblichen Examinanden sich
den männlichen im Durchschnitt überlegen zeigten, so ist das freilich etwas
gedankenlos; denn im Anfang werden natürlich nur die muthigsten und tüch¬
tigsten jungen Damen in diese neue Arena eingetreten sein, und erst die Er¬
fahrung späterer Jahre kann das wahre Verhältniß der Geschlechter zu ein¬
ander in dieser Beziehung herausstellen. Im Uebrigen ist damit eine weite
Bahn geöffnet; die Studien blühen, die Geister erwachen — könnte man mit
Hütten jetzt von der englischen Frauenwelt sagen, in die ein merkwürdiger
Drang nach neuem Wissen und neuem Thun gefahren ist. Eine Miß Thome
hat neulich das Apothekerexamen aufs Glänzendste bestanden, eine Miß Gar¬
rett hält in London Vorlesungen über Physiologie und Hygiene speciell für
das solcher Aufklärung sehr bedürftige weibliche Geschlecht. Wie lange wird
es dauern, so erheben sich irgendwo in Londons Nähe die stattlichen Räume
einer Hochschule für das weibliche Geschlecht, nicht wie die zu Poughkeepsie
in den Vereinigten Staaten von einem Einzelnen ins Werk gerichtet,
sondern durch Selbstbestimmung einer großen Zahl von englischen Frauen
und Mädchen gegründet und nach Erziehungsideen eingerichtet, die unmittel¬
bar aus dem vorwärtsströmenden geistigen Fonds der Zeit geschöpft, nicht ver¬
alteten Schablonen entlehnt sind? Vielleicht daß daraus selbst der Unter¬
richt des männlichen Geschlechts auf seinen höchsten Stufen einen Anstoß zu
gründlicher Revision empfängt.




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[0073] zu lesen, zu schreiben, sich zu unterhalten, sich zu erfrischen, unter Umständen auch die Nacht zuzubringen. Wer, der sich jemals um die Zustände des niedern Volks gekümmert hat, wüßte nicht, welche Gefahren in der leeren Muße des Sonntagnachmittags schlummern! Im besseren Falle ist sie fruchtbar an verfrühten Ehen; im schlimmeren an Unordnungen aller Art, Prostitution und Trunksucht. Die Darbietung eines angenehmen Aufenthaltsortes würde zahlreiche Mädchen dieser Gefahr des reinen Müßiggangs entziehen und für einen Theil derselben die Aussicht eröffnen, daß sie sich vermöge eigener An¬ strengung über ihre angeborene Niedrigkeit und Ungesittung erheben. Geglückt ist ferner in England das Streben, die Universitätsprüfungen auch Mädchen und Frauen zugänglich zu machen. Wenn der Ausfall der ersten gemeinsamen oder gemischten Prüfungen die Organe der Fraueneman¬ cipation zu Dithyramben begeistert hat, weil die weiblichen Examinanden sich den männlichen im Durchschnitt überlegen zeigten, so ist das freilich etwas gedankenlos; denn im Anfang werden natürlich nur die muthigsten und tüch¬ tigsten jungen Damen in diese neue Arena eingetreten sein, und erst die Er¬ fahrung späterer Jahre kann das wahre Verhältniß der Geschlechter zu ein¬ ander in dieser Beziehung herausstellen. Im Uebrigen ist damit eine weite Bahn geöffnet; die Studien blühen, die Geister erwachen — könnte man mit Hütten jetzt von der englischen Frauenwelt sagen, in die ein merkwürdiger Drang nach neuem Wissen und neuem Thun gefahren ist. Eine Miß Thome hat neulich das Apothekerexamen aufs Glänzendste bestanden, eine Miß Gar¬ rett hält in London Vorlesungen über Physiologie und Hygiene speciell für das solcher Aufklärung sehr bedürftige weibliche Geschlecht. Wie lange wird es dauern, so erheben sich irgendwo in Londons Nähe die stattlichen Räume einer Hochschule für das weibliche Geschlecht, nicht wie die zu Poughkeepsie in den Vereinigten Staaten von einem Einzelnen ins Werk gerichtet, sondern durch Selbstbestimmung einer großen Zahl von englischen Frauen und Mädchen gegründet und nach Erziehungsideen eingerichtet, die unmittel¬ bar aus dem vorwärtsströmenden geistigen Fonds der Zeit geschöpft, nicht ver¬ alteten Schablonen entlehnt sind? Vielleicht daß daraus selbst der Unter¬ richt des männlichen Geschlechts auf seinen höchsten Stufen einen Anstoß zu gründlicher Revision empfängt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/73>, abgerufen am 05.02.2025.