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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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nicht mehr Kritik; das ist Idolatrie. Die wahre Liebe zu einem großen
Manne, wie es Händel gewiß war, nimmt wohl auch seine Fehler mit in Kauf,
aber sie sieht die Fehler. Der beste (letzte) Theil des Gervinus'schen Buches,
die Parallele zwischen Händel und Shakspeare, welche in der That viele
merkwürdige und wahre Vergleichungspunkte zu Tage fördert, leidet auch,
ganz abgesehen von dem Zwang, den jede vergleichende Schätzung solchen
Umfangs und von solchem Detail'mit sich führt, an dem euphemistischen
Uebermaß seines Händelcultus. So sagt er gleich im Anfang (S. 325):
"Es gibt unter allen Tonmeistern vor und neben und nach ihm nicht
Einen, der mit so sicherem Griffe der genialen Inspiration, ja mit so sicherem
Begriffe bewußter Kunsteinsicht zu aller Zeit an dem rechten Kern und Wesen
dieser Kunst festgehalten hätte, von ihm in keinem Momente abgeirrt wäre,
wie er." Uns dünkt, ganz dasselbe ließe sich von Seb. Bach sagen.

Nach allem Vorangegangenen ist es nur begreiflich, daß für Gervinus
die ganze neuere, die nachbeethovensche Kunst, so gut wie gar nicht
eristirt. Daß ein Liederheft von Schumann wie "Frauenliebe und Leben"
mehr poetische Erfindungskraft birgt als manche Oper von Händel, daß
die Ouvertüre zum Sommernachtstraum, die Schubert'sche Sinfonie ganz ebenso
echte Kunstwerke sind, wie sie Händel nur jemals geschaffen, das ahnt er nicht.
Der ödeste Pauken- und Trompetenchor, die phrasenhafteste Chorfuge seines
Lieblings erscheint ihm als vollendetes Kunstwunder, wie es kein Anderer
vor, neben und nach Händel aus sich geboren hat. "Wer solchen Fehler
machen konnte" sagt Lessing im Laokoon von Pope, "dem war es erlaubt,
von der ganzen Sache Nichts zu wissen."




Die höchste und drückendste Steuer.

Daß durch die Möglichkeit beschleunigter Verwerthung von Erzeugnissen
des Bodens und des Gewerbefleißcs die Produetivnsthätigkeit gesteigert, der
Werth des Grundbesitzes und der Arbeit durch den Eisenbahnverkehr wesent¬
lich gehoben wird, ist eine Thatsache, welche, überall durch schlagende Er¬
fahrungen bestätigt, weit überzeugender noch für den Nutzen dieser modernen
Communicationsmittel spricht, als der Betrag der aus dem Betriebe der¬
selben gewonnenen Verzinsung des Anlagecapitals.

Schon deshalb liegt in den hohen Transportkosten der Eisenbahnen,


nicht mehr Kritik; das ist Idolatrie. Die wahre Liebe zu einem großen
Manne, wie es Händel gewiß war, nimmt wohl auch seine Fehler mit in Kauf,
aber sie sieht die Fehler. Der beste (letzte) Theil des Gervinus'schen Buches,
die Parallele zwischen Händel und Shakspeare, welche in der That viele
merkwürdige und wahre Vergleichungspunkte zu Tage fördert, leidet auch,
ganz abgesehen von dem Zwang, den jede vergleichende Schätzung solchen
Umfangs und von solchem Detail'mit sich führt, an dem euphemistischen
Uebermaß seines Händelcultus. So sagt er gleich im Anfang (S. 325):
„Es gibt unter allen Tonmeistern vor und neben und nach ihm nicht
Einen, der mit so sicherem Griffe der genialen Inspiration, ja mit so sicherem
Begriffe bewußter Kunsteinsicht zu aller Zeit an dem rechten Kern und Wesen
dieser Kunst festgehalten hätte, von ihm in keinem Momente abgeirrt wäre,
wie er." Uns dünkt, ganz dasselbe ließe sich von Seb. Bach sagen.

Nach allem Vorangegangenen ist es nur begreiflich, daß für Gervinus
die ganze neuere, die nachbeethovensche Kunst, so gut wie gar nicht
eristirt. Daß ein Liederheft von Schumann wie „Frauenliebe und Leben"
mehr poetische Erfindungskraft birgt als manche Oper von Händel, daß
die Ouvertüre zum Sommernachtstraum, die Schubert'sche Sinfonie ganz ebenso
echte Kunstwerke sind, wie sie Händel nur jemals geschaffen, das ahnt er nicht.
Der ödeste Pauken- und Trompetenchor, die phrasenhafteste Chorfuge seines
Lieblings erscheint ihm als vollendetes Kunstwunder, wie es kein Anderer
vor, neben und nach Händel aus sich geboren hat. „Wer solchen Fehler
machen konnte" sagt Lessing im Laokoon von Pope, „dem war es erlaubt,
von der ganzen Sache Nichts zu wissen."




Die höchste und drückendste Steuer.

Daß durch die Möglichkeit beschleunigter Verwerthung von Erzeugnissen
des Bodens und des Gewerbefleißcs die Produetivnsthätigkeit gesteigert, der
Werth des Grundbesitzes und der Arbeit durch den Eisenbahnverkehr wesent¬
lich gehoben wird, ist eine Thatsache, welche, überall durch schlagende Er¬
fahrungen bestätigt, weit überzeugender noch für den Nutzen dieser modernen
Communicationsmittel spricht, als der Betrag der aus dem Betriebe der¬
selben gewonnenen Verzinsung des Anlagecapitals.

Schon deshalb liegt in den hohen Transportkosten der Eisenbahnen,


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[0529] nicht mehr Kritik; das ist Idolatrie. Die wahre Liebe zu einem großen Manne, wie es Händel gewiß war, nimmt wohl auch seine Fehler mit in Kauf, aber sie sieht die Fehler. Der beste (letzte) Theil des Gervinus'schen Buches, die Parallele zwischen Händel und Shakspeare, welche in der That viele merkwürdige und wahre Vergleichungspunkte zu Tage fördert, leidet auch, ganz abgesehen von dem Zwang, den jede vergleichende Schätzung solchen Umfangs und von solchem Detail'mit sich führt, an dem euphemistischen Uebermaß seines Händelcultus. So sagt er gleich im Anfang (S. 325): „Es gibt unter allen Tonmeistern vor und neben und nach ihm nicht Einen, der mit so sicherem Griffe der genialen Inspiration, ja mit so sicherem Begriffe bewußter Kunsteinsicht zu aller Zeit an dem rechten Kern und Wesen dieser Kunst festgehalten hätte, von ihm in keinem Momente abgeirrt wäre, wie er." Uns dünkt, ganz dasselbe ließe sich von Seb. Bach sagen. Nach allem Vorangegangenen ist es nur begreiflich, daß für Gervinus die ganze neuere, die nachbeethovensche Kunst, so gut wie gar nicht eristirt. Daß ein Liederheft von Schumann wie „Frauenliebe und Leben" mehr poetische Erfindungskraft birgt als manche Oper von Händel, daß die Ouvertüre zum Sommernachtstraum, die Schubert'sche Sinfonie ganz ebenso echte Kunstwerke sind, wie sie Händel nur jemals geschaffen, das ahnt er nicht. Der ödeste Pauken- und Trompetenchor, die phrasenhafteste Chorfuge seines Lieblings erscheint ihm als vollendetes Kunstwunder, wie es kein Anderer vor, neben und nach Händel aus sich geboren hat. „Wer solchen Fehler machen konnte" sagt Lessing im Laokoon von Pope, „dem war es erlaubt, von der ganzen Sache Nichts zu wissen." Die höchste und drückendste Steuer. Daß durch die Möglichkeit beschleunigter Verwerthung von Erzeugnissen des Bodens und des Gewerbefleißcs die Produetivnsthätigkeit gesteigert, der Werth des Grundbesitzes und der Arbeit durch den Eisenbahnverkehr wesent¬ lich gehoben wird, ist eine Thatsache, welche, überall durch schlagende Er¬ fahrungen bestätigt, weit überzeugender noch für den Nutzen dieser modernen Communicationsmittel spricht, als der Betrag der aus dem Betriebe der¬ selben gewonnenen Verzinsung des Anlagecapitals. Schon deshalb liegt in den hohen Transportkosten der Eisenbahnen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/529>, abgerufen am 06.02.2025.