Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.den "hingegebensten Bewunderern" verhält es sich aber folgendermaßen. Leute den „hingegebensten Bewunderern" verhält es sich aber folgendermaßen. Leute <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0528" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287800"/> <p xml:id="ID_1331" prev="#ID_1330" next="#ID_1332"> den „hingegebensten Bewunderern" verhält es sich aber folgendermaßen. Leute<lb/> hat es gegeben, und es gibt deren noch heute, welche dem letzten Satz der<lb/> neunten Sinfonie Ungeheuerlichkeit, Unklarheit, Unschönheit, vielleicht gerade<lb/> wegen der Vermischung eines Menschenchors mit sinfonisirendem Orchester vor¬<lb/> werfen. Darüber läßt sich streiten, man hat doch wenigstens Boden unter den<lb/> Füßen. Daß es eben außer Gervinus im Bereiche der musikalischen Welt<lb/> — ästhetische „Däumerlinge" und Tagfalter in beliebiger Vertheilung mit¬<lb/> gerechnet — einen Menschen mit einem Anflug von gesundem Kunstsinn<lb/> geben sollte, welcher in der neunten Sinfonie und der harmlos liebens¬<lb/> würdigen Chorfantasie „Urkunden über die Grenzen der Instrumentalmusik"<lb/> sähe, glauben wir nicht eher, als bis sich derselbe dazu bekennt. An Herrn<lb/> Chrysander, dem Biographen Händel's und Redacteur einer Kunstzeitung,<lb/> wäre es jetzt, sich offen für oder gegen die Kunstansichten seines Freundes<lb/> auszusprechen. Wer eingreifen will in die Kunstbestrebungen seiner eigenen<lb/> Zeit, muß Farbe bekennen. Es gibt ein viel größeres Mißgeschick als seinen<lb/> Namen auf der Widmungsseite eines verunglückten Buches zu lesen: das<lb/> Mißgeschick nämlich, mit solchem Gevatterthum den Argwohn auf sich zu<lb/> laden, als adoptire man seinen Inhalt bona, Käs und in seiner ganzen<lb/> Ausdehnung. Niemand, auch der Freund nicht, darf es dulden, daß ein<lb/> Schriftsteller die Autorität und das Prestige seines Namens dazu mißbraucht,<lb/> die wunderlich kranken Ausgeburten seines Hirns mit dem ungemeinen Be¬<lb/> hagen der Unfehlbarkeit in die Welt zu schicken, wenn die Gefahr, daß sie<lb/> Theilnahme erwecken, auch noch so verschwindend klein wäre. Jede Theorie,<lb/> welche darauf herausläuft, eine von Unzähligen — man kann bald sagen<lb/> von Generationen — anerkannte Wahrheit als einen Irrthum hinzustellen,<lb/> ohne ihn mit positiv stichhaltigen Gründen beweisen zu können, ist Thorheit,<lb/> mag sie mit noch so viel casuistischem Geschick behandelt sein. Es gibt heut<lb/> zu Tage — man kann dies mit fast statistischer Bestimmtheit behaupten —<lb/> keinen einzigen sich mit der Tonkunst sei es nun fachgemäß oder dilettirend<lb/> beschäftigenden Menschen, welchem die großen Schöpfungen der reinen In¬<lb/> strumentalmusik, die Orgelmusik Bach's, die Sinfonien, Quartette, Trios<lb/> und Sonaten Beethoven's, Mozart's und Haydn's, von neueren Meistern<lb/> nicht zu reden, nicht zu dem Theuerster gehörten, was diese Kunst ge¬<lb/> schaffen. Was mag Gervinus von all' diesen Werken nur kennen und wie<lb/> mag er sie kennen! Für ihn gibt es Nichts als Händel! Mit Händel hat<lb/> die Kunst eigentlich angefangen, mit Händel hat sie aufgehört. Für seine<lb/> antiquirteste, zopfige Oper kann er sich begeistern: die Eroica sagt ihm<lb/> Nichts. Für all' die Mängel seines großen Lieblings, das vielfach Conven¬<lb/> tionelle und Monotone, von dem selbst einige seiner bedeutendsten Oratorien<lb/> nicht ganz freizusprechen sind, ist er gänzlich blind. Das nennen wir aber</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0528]
den „hingegebensten Bewunderern" verhält es sich aber folgendermaßen. Leute
hat es gegeben, und es gibt deren noch heute, welche dem letzten Satz der
neunten Sinfonie Ungeheuerlichkeit, Unklarheit, Unschönheit, vielleicht gerade
wegen der Vermischung eines Menschenchors mit sinfonisirendem Orchester vor¬
werfen. Darüber läßt sich streiten, man hat doch wenigstens Boden unter den
Füßen. Daß es eben außer Gervinus im Bereiche der musikalischen Welt
— ästhetische „Däumerlinge" und Tagfalter in beliebiger Vertheilung mit¬
gerechnet — einen Menschen mit einem Anflug von gesundem Kunstsinn
geben sollte, welcher in der neunten Sinfonie und der harmlos liebens¬
würdigen Chorfantasie „Urkunden über die Grenzen der Instrumentalmusik"
sähe, glauben wir nicht eher, als bis sich derselbe dazu bekennt. An Herrn
Chrysander, dem Biographen Händel's und Redacteur einer Kunstzeitung,
wäre es jetzt, sich offen für oder gegen die Kunstansichten seines Freundes
auszusprechen. Wer eingreifen will in die Kunstbestrebungen seiner eigenen
Zeit, muß Farbe bekennen. Es gibt ein viel größeres Mißgeschick als seinen
Namen auf der Widmungsseite eines verunglückten Buches zu lesen: das
Mißgeschick nämlich, mit solchem Gevatterthum den Argwohn auf sich zu
laden, als adoptire man seinen Inhalt bona, Käs und in seiner ganzen
Ausdehnung. Niemand, auch der Freund nicht, darf es dulden, daß ein
Schriftsteller die Autorität und das Prestige seines Namens dazu mißbraucht,
die wunderlich kranken Ausgeburten seines Hirns mit dem ungemeinen Be¬
hagen der Unfehlbarkeit in die Welt zu schicken, wenn die Gefahr, daß sie
Theilnahme erwecken, auch noch so verschwindend klein wäre. Jede Theorie,
welche darauf herausläuft, eine von Unzähligen — man kann bald sagen
von Generationen — anerkannte Wahrheit als einen Irrthum hinzustellen,
ohne ihn mit positiv stichhaltigen Gründen beweisen zu können, ist Thorheit,
mag sie mit noch so viel casuistischem Geschick behandelt sein. Es gibt heut
zu Tage — man kann dies mit fast statistischer Bestimmtheit behaupten —
keinen einzigen sich mit der Tonkunst sei es nun fachgemäß oder dilettirend
beschäftigenden Menschen, welchem die großen Schöpfungen der reinen In¬
strumentalmusik, die Orgelmusik Bach's, die Sinfonien, Quartette, Trios
und Sonaten Beethoven's, Mozart's und Haydn's, von neueren Meistern
nicht zu reden, nicht zu dem Theuerster gehörten, was diese Kunst ge¬
schaffen. Was mag Gervinus von all' diesen Werken nur kennen und wie
mag er sie kennen! Für ihn gibt es Nichts als Händel! Mit Händel hat
die Kunst eigentlich angefangen, mit Händel hat sie aufgehört. Für seine
antiquirteste, zopfige Oper kann er sich begeistern: die Eroica sagt ihm
Nichts. Für all' die Mängel seines großen Lieblings, das vielfach Conven¬
tionelle und Monotone, von dem selbst einige seiner bedeutendsten Oratorien
nicht ganz freizusprechen sind, ist er gänzlich blind. Das nennen wir aber
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