Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.fragen, ob das Adagio der v-moll - Sinfonie nicht schon mehr den Charakter Wir können uns die Aufzählung der weiteren Ordnungen ersparen. Es fragen, ob das Adagio der v-moll - Sinfonie nicht schon mehr den Charakter Wir können uns die Aufzählung der weiteren Ordnungen ersparen. Es <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0526" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287798"/> <p xml:id="ID_1327" prev="#ID_1326"> fragen, ob das Adagio der v-moll - Sinfonie nicht schon mehr den Charakter<lb/> des „Habituellen" trüge?</p><lb/> <p xml:id="ID_1328" next="#ID_1329"> Wir können uns die Aufzählung der weiteren Ordnungen ersparen. Es<lb/> genügt zu wissen, daß „Rührung. Mitleid, Bitte und Gebet. Liebe und<lb/> Sehnsucht, Haß, Hoffnung, Furcht" u. s. w, in des Verfassers musikalischen<lb/> Paßbureau aufs strengste controlirt werden. Wenn man einen Maler früge,<lb/> welche Tonart er sich bei dieser oder jener Farbe gedacht, so würde sein Er¬<lb/> staunen kein geringes sein. Ebenso wunderlich wäre es, wenn man einen<lb/> Tonkünstler fragen wollte, welche Empfindung er bei diesem oder jenem<lb/> Thema gehabt hat. Er hat eben nur musikalisch empfunden oder gedacht.<lb/> Bestimmte Empfindungen, wenn er solche nicht unmittelbar wie bei<lb/> der Gesangsmusik geben will, leiten ihn sicherlich nicht bei der Komposition<lb/> eines Jnstrumentalmusikstückes. Es ist hierbei von gar keinem Gewicht, daß<lb/> Beethoven bei einzelnen wenigen Werken, der Pastoralsinsonie. der Sonate<lb/> 1'aäieu, I'-rbsenee et 1s retour und in einem seiner letzten Quartette aus<lb/> besonderen Empfindungen, die ihn ausnahmsweise bei seiner Arbeit in-<lb/> spirirt haben, kein Hehl gemacht hat. Die Musik hat ganz sicherlich die<lb/> Fähigkeit, einzelne bestimmte Empfindungen, wenn sie es will, wiederzugeben;<lb/> ihr eigentlicher Beruf aber ist es nicht. Ein wirklich musikalischer Kopf<lb/> wird sich von einem unmusikalischen in erster Reihe immer dadurch unterscheiden,<lb/> daß er zum Verständniß der Tonkunst keiner Vermittelung und keiner Ueber-<lb/> tragung bedarf. Der Verfasser sagt an einer Stelle (S. 165): „wenn man<lb/> die zahllosen Deutungen der Beethoven'schen Werke zusammenstellen wollte,<lb/> es wäre eine peinlich lächerliche Scene, wie in einem Irrenhause." Gewiß. Der<lb/> Unsinn der Deutung gehört in ein Irrenhaus. Die 6-moI1-Sinfonie<lb/> Mozart's bedeutet beispielsweise im Gervinus'schen Sinne gar Nichts: so lange<lb/> es aber musikalische Menschen auf Erden gibt, wird sie dieselben entzücken.<lb/> In dem Einen wird sie diese, in einem Andern jene Empfindung erregen,<lb/> in keinem Fall eine bestimmte. Das Bestimmte an ihr ist ewig nur<lb/> die Musik, alles Andere derivativ, secundär. Aber die gelehrten Herren,<lb/> welche so Viel begreifen, den ganzen Shakspeare und wie sie meinen auch den<lb/> ganzen Händel, können es schlechterdings nicht vertragen, daß es Etwas auf<lb/> der Welt geben soll, das sie gar nicht begreifen können. Nun sollte man<lb/> meinen, ein bedeutender Mensch würde angesichts einer ungeheuren Kunst-<lb/> entwickelung, wie jene ersten Herausgeber Shakspeare's dem Leser des Dichters,<lb/> sich selber zurufen (S. 338) „lies ihn, und lies ihn wieder und wieder, und<lb/> wenn du ihn dann nicht lieb gewinnst, so bist du in der augenschein¬<lb/> lichen Gefahr, ihn nicht zu verstehen"; aber es gibt merkwürdige<lb/> Constitutionen, welche eher die ganze Welt für einen Irrthum halten, als<lb/> sich selbst eine Unfähigkeit einräumen würden. Wie weit Gervinus von die-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0526]
fragen, ob das Adagio der v-moll - Sinfonie nicht schon mehr den Charakter
des „Habituellen" trüge?
Wir können uns die Aufzählung der weiteren Ordnungen ersparen. Es
genügt zu wissen, daß „Rührung. Mitleid, Bitte und Gebet. Liebe und
Sehnsucht, Haß, Hoffnung, Furcht" u. s. w, in des Verfassers musikalischen
Paßbureau aufs strengste controlirt werden. Wenn man einen Maler früge,
welche Tonart er sich bei dieser oder jener Farbe gedacht, so würde sein Er¬
staunen kein geringes sein. Ebenso wunderlich wäre es, wenn man einen
Tonkünstler fragen wollte, welche Empfindung er bei diesem oder jenem
Thema gehabt hat. Er hat eben nur musikalisch empfunden oder gedacht.
Bestimmte Empfindungen, wenn er solche nicht unmittelbar wie bei
der Gesangsmusik geben will, leiten ihn sicherlich nicht bei der Komposition
eines Jnstrumentalmusikstückes. Es ist hierbei von gar keinem Gewicht, daß
Beethoven bei einzelnen wenigen Werken, der Pastoralsinsonie. der Sonate
1'aäieu, I'-rbsenee et 1s retour und in einem seiner letzten Quartette aus
besonderen Empfindungen, die ihn ausnahmsweise bei seiner Arbeit in-
spirirt haben, kein Hehl gemacht hat. Die Musik hat ganz sicherlich die
Fähigkeit, einzelne bestimmte Empfindungen, wenn sie es will, wiederzugeben;
ihr eigentlicher Beruf aber ist es nicht. Ein wirklich musikalischer Kopf
wird sich von einem unmusikalischen in erster Reihe immer dadurch unterscheiden,
daß er zum Verständniß der Tonkunst keiner Vermittelung und keiner Ueber-
tragung bedarf. Der Verfasser sagt an einer Stelle (S. 165): „wenn man
die zahllosen Deutungen der Beethoven'schen Werke zusammenstellen wollte,
es wäre eine peinlich lächerliche Scene, wie in einem Irrenhause." Gewiß. Der
Unsinn der Deutung gehört in ein Irrenhaus. Die 6-moI1-Sinfonie
Mozart's bedeutet beispielsweise im Gervinus'schen Sinne gar Nichts: so lange
es aber musikalische Menschen auf Erden gibt, wird sie dieselben entzücken.
In dem Einen wird sie diese, in einem Andern jene Empfindung erregen,
in keinem Fall eine bestimmte. Das Bestimmte an ihr ist ewig nur
die Musik, alles Andere derivativ, secundär. Aber die gelehrten Herren,
welche so Viel begreifen, den ganzen Shakspeare und wie sie meinen auch den
ganzen Händel, können es schlechterdings nicht vertragen, daß es Etwas auf
der Welt geben soll, das sie gar nicht begreifen können. Nun sollte man
meinen, ein bedeutender Mensch würde angesichts einer ungeheuren Kunst-
entwickelung, wie jene ersten Herausgeber Shakspeare's dem Leser des Dichters,
sich selber zurufen (S. 338) „lies ihn, und lies ihn wieder und wieder, und
wenn du ihn dann nicht lieb gewinnst, so bist du in der augenschein¬
lichen Gefahr, ihn nicht zu verstehen"; aber es gibt merkwürdige
Constitutionen, welche eher die ganze Welt für einen Irrthum halten, als
sich selbst eine Unfähigkeit einräumen würden. Wie weit Gervinus von die-
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