Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.Sonne ging unter, doch die Sommernächte im Norden werden nie dunkel; Während ich auf Obristlieutnant Hoffmann wartete, kam ein stattlicher Grenzboten IV. 18K8. SS
Sonne ging unter, doch die Sommernächte im Norden werden nie dunkel; Während ich auf Obristlieutnant Hoffmann wartete, kam ein stattlicher Grenzboten IV. 18K8. SS
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Sonne ging unter, doch die Sommernächte im Norden werden nie dunkel;
dessenungeachtet fand sich ein listiger Speculant, ein unbedeutender Lichtsabri-
kant. der eine Masse Lichter in Vorrath hatte, und dem Volke einredete,
wenn der Thronfolger in der Nacht eintreffe müsse er mit brennenden Kerzen
bewillkommnet werden. Das Volk saß an beiden Seiten des Weges mit an¬
gezündeten Lichtern in der Hand. Endlich um Mitternacht, als Alles wieder
finster geworden war, kam ein Feldjäger angesprengt, dem nach einer Viertel¬
stunde der hohe Gast mit seiner Suite folgte. Im Hause des Kreisrichters
nahm der Thronfolger seine Wohnung; die Reisenden begaben sich sofort
nach ihrer Ankunft zur Ruhe, das Volk aber stellte sich vor der Wohnung
seines künftigen Herrschers auf der Straße auf, um das Erwachen abzuwarten
und ihn dann zu sehen. — Um vier Uhr Morgens fuhr ich an das Haus
das den Thronfolger beherbergte, ließ die Brettdroschke inmitten eines dichten
Haufens halten und schleppte mich auf meinen Krücken bis vor die Thür.
Von Weitem kam mir der Polizeimeister entgegen, und bat mich ihn doch
keiner Verantwortung auszusetzen, da der Adjutant des Generalgouverneurs
ihm streng vorgeschrieben habe, Niemand von den Staatsverbrechern zum
Thronfolger zuzulassen. Ich bemerkte ihm, daß ein solcher Befehl mir zweifel¬
haft erscheine und daß, wenn eine solche Maßregel für unumgänglich noth¬
wendig gehalten worden wäre, die Behörde ihn wohl schon früher davon
benachrichtigt und uns entweder eingesperrt oder doch verboten hätte, an
diesem Tage das Haus zu verlassen. Ich mußte aber doch der ängstlichen
Bitte des guten Polizeimeisters nachgeben und suchte die Wohnung des
Gendarmen-Stabsofficiers auf, der den Thronfolger begleitete; es war ein
Obristlieutenant Hoffmann, der mir auf der Straße begegnete. Ich ersuchte
ihn, mir die Gelegenheit zu einer Audienz zu verschaffen. Diese Bitte mußte
der Obrist mir abschlagen; er äußerte aber seine Bereitwilligkeit, eine von mir
zu verfassende Bittschrift zu überreichen. Als er erfuhr, daß ich gar keine
Bittschrift aufgesetzt hätte, bat er mich, einen Augenblick auf ihn zu warten,
er wolle sich über die Möglichkeit der Erfüllung meines Wunsches instruiren.
Während ich auf Obristlieutnant Hoffmann wartete, kam ein stattlicher
Mann in einen Militärmantel eingehüllt gerade auf mich zu und sagte:
„Gewiß sind Sie der Baron R. Mein Freund Krutow hat mir auf die
Seele gebunden, Sie, wenn ich über Kurgan reisen sollte, zu besuchen und
Ihnen zu helfen; ich bitte Sie bei mir einzutreten." Es war I. V. Jenochin,
der Leibarzt des Thronfolgers, der diese Worte zu mir sprach. Einen Augen¬
blick später hatten mich zwei geschickte Feldscherer ausgekleidet; ich lag auf
einem Divan, und nachdem Jenochin mein krankes Bein untersucht hatte,
erklärte er sogleich, daß es eine „halbe Verrenkung nach vorn" sei. die mir die
Schmerzen verursacht habe. Da schon ein halbes Jahr seit der Verrenkung
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