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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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"In den ersten Tagen des Jahres 1837 verbreitete sich das Gerücht, daß
der Großfürst Thronfolger (jetzige Kaiser) Alexander Nikolajewitsch eine
Reise nach Sibirien unternehmen und auch Kurgan berühren werde. Im
April fuhr man für ihn Pferde ein und dressirte man die Vorreiter; für den
Fall, daß der Thronerbe Nachts die Stadt passiren sollte, wurden die Pferde
daran gewöhnt vor den erleuchteten Laternen und angezündeten Fackeln, mit
denen mehre Reiter auf beiden Seiten des Weges neben den angespannten
Pferden sprengen sollten, nicht zu erschrecken. Diese Vorbereitungen belustigten
viele Zuschauer, nur nicht die Mütter der Vorreiter und der Fackelträger,
welche jeden Augenblick Gefahr liefen von ihren unbändigen Rossen zu
stürzen und den Hals zu brechen. Diese Vorbereitungen bildeten Wochen lang
den Hauptgegenstand aller Gespräche in Kurgan. Im Kreise meiner Kame¬
raden wurde die Frage aufgeworfen: Sollen wir die Gelegenheit benutzen
und um unsere Rückkehr in die Heimath bitten? -- Aber welche Zukunft
konnten Männer erwarten, die zum bürgerlichen Tode verurtheilt waren?
Was für einen Trost würden unsere Verwandten davon haben, uns ohne
Stellung, ohne bürgerliche Rechte, ohne Beschäftigung unter Aufsicht der
Polizei verkümmern zu sehen? -- Außerdem mußten wir uns sagen, daß wenn
die Vermittelung des Thronfolgers auch Einige von uns aus der Verban¬
nung befreite, nur ein geringer Theil unserer Unglücksgefährten dieser Gnade
theilhaftig werden könne und die Uebrigen, ja die Meisten, in allen Richtungen
Sibiriens zerstreut, in eine noch üblere Lage gerathen müßten. -- Als die
Nachricht kam, daß der Thronfolger schon in Tobolsk sei, daß er nur den
westlichen Grenzstrich Sibiriens berühren, über Jalutorowsk und Kurgan
nach Orenburg reisen und den 6. Juni in unserer Stadt eintreffen werde,
wuchs meine Unruhe täglich. Für mich selbst hatte ich Nichts zu bitten,
aber für die Zukunft meiner Kinder, meiner treuen Gattin mußte ich sorgen,
da meine zunehmende Kränklichkeit mir den Gedanken nahe legte, nicht mehr
lange ihr Beschützer und Rathgeber zu bleiben. -- In einem solchen Kampfe
wurde es mir nicht schwer mich zu entschließen. Drei Tage vor der Ankunft
des Thronfolgers fuhr ich zu meinen Kameraden und that ihnen meinen
Entschluß kund, eine Audienz beim Thronfolger zu erbitten, um ihm mündlich
das Schicksal meiner Familie anzuvertrauen, wenn ich selbst nicht mehr sein
würde. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich eine solche Gelegenheit
verabsäumt hätte, um meinen Kindern, wenn auch nicht sogleich, doch mit
der Zeit, einige Erleichterung zu verschaffen.

Den 6. Juni Nachmittag strömte das Volk in festlicher Tracht dem
Thronfolger entgegen, den man zur Nacht erwartete. Außer den Einwohnern
der Stadt kam eine Menge Landvolk aus den umliegenden Dörfern und be¬
setzte Werste weit beide Seiten des Weges auf dem er kommen sollte. Die


„In den ersten Tagen des Jahres 1837 verbreitete sich das Gerücht, daß
der Großfürst Thronfolger (jetzige Kaiser) Alexander Nikolajewitsch eine
Reise nach Sibirien unternehmen und auch Kurgan berühren werde. Im
April fuhr man für ihn Pferde ein und dressirte man die Vorreiter; für den
Fall, daß der Thronerbe Nachts die Stadt passiren sollte, wurden die Pferde
daran gewöhnt vor den erleuchteten Laternen und angezündeten Fackeln, mit
denen mehre Reiter auf beiden Seiten des Weges neben den angespannten
Pferden sprengen sollten, nicht zu erschrecken. Diese Vorbereitungen belustigten
viele Zuschauer, nur nicht die Mütter der Vorreiter und der Fackelträger,
welche jeden Augenblick Gefahr liefen von ihren unbändigen Rossen zu
stürzen und den Hals zu brechen. Diese Vorbereitungen bildeten Wochen lang
den Hauptgegenstand aller Gespräche in Kurgan. Im Kreise meiner Kame¬
raden wurde die Frage aufgeworfen: Sollen wir die Gelegenheit benutzen
und um unsere Rückkehr in die Heimath bitten? — Aber welche Zukunft
konnten Männer erwarten, die zum bürgerlichen Tode verurtheilt waren?
Was für einen Trost würden unsere Verwandten davon haben, uns ohne
Stellung, ohne bürgerliche Rechte, ohne Beschäftigung unter Aufsicht der
Polizei verkümmern zu sehen? — Außerdem mußten wir uns sagen, daß wenn
die Vermittelung des Thronfolgers auch Einige von uns aus der Verban¬
nung befreite, nur ein geringer Theil unserer Unglücksgefährten dieser Gnade
theilhaftig werden könne und die Uebrigen, ja die Meisten, in allen Richtungen
Sibiriens zerstreut, in eine noch üblere Lage gerathen müßten. — Als die
Nachricht kam, daß der Thronfolger schon in Tobolsk sei, daß er nur den
westlichen Grenzstrich Sibiriens berühren, über Jalutorowsk und Kurgan
nach Orenburg reisen und den 6. Juni in unserer Stadt eintreffen werde,
wuchs meine Unruhe täglich. Für mich selbst hatte ich Nichts zu bitten,
aber für die Zukunft meiner Kinder, meiner treuen Gattin mußte ich sorgen,
da meine zunehmende Kränklichkeit mir den Gedanken nahe legte, nicht mehr
lange ihr Beschützer und Rathgeber zu bleiben. — In einem solchen Kampfe
wurde es mir nicht schwer mich zu entschließen. Drei Tage vor der Ankunft
des Thronfolgers fuhr ich zu meinen Kameraden und that ihnen meinen
Entschluß kund, eine Audienz beim Thronfolger zu erbitten, um ihm mündlich
das Schicksal meiner Familie anzuvertrauen, wenn ich selbst nicht mehr sein
würde. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich eine solche Gelegenheit
verabsäumt hätte, um meinen Kindern, wenn auch nicht sogleich, doch mit
der Zeit, einige Erleichterung zu verschaffen.

Den 6. Juni Nachmittag strömte das Volk in festlicher Tracht dem
Thronfolger entgegen, den man zur Nacht erwartete. Außer den Einwohnern
der Stadt kam eine Menge Landvolk aus den umliegenden Dörfern und be¬
setzte Werste weit beide Seiten des Weges auf dem er kommen sollte. Die


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[0462] „In den ersten Tagen des Jahres 1837 verbreitete sich das Gerücht, daß der Großfürst Thronfolger (jetzige Kaiser) Alexander Nikolajewitsch eine Reise nach Sibirien unternehmen und auch Kurgan berühren werde. Im April fuhr man für ihn Pferde ein und dressirte man die Vorreiter; für den Fall, daß der Thronerbe Nachts die Stadt passiren sollte, wurden die Pferde daran gewöhnt vor den erleuchteten Laternen und angezündeten Fackeln, mit denen mehre Reiter auf beiden Seiten des Weges neben den angespannten Pferden sprengen sollten, nicht zu erschrecken. Diese Vorbereitungen belustigten viele Zuschauer, nur nicht die Mütter der Vorreiter und der Fackelträger, welche jeden Augenblick Gefahr liefen von ihren unbändigen Rossen zu stürzen und den Hals zu brechen. Diese Vorbereitungen bildeten Wochen lang den Hauptgegenstand aller Gespräche in Kurgan. Im Kreise meiner Kame¬ raden wurde die Frage aufgeworfen: Sollen wir die Gelegenheit benutzen und um unsere Rückkehr in die Heimath bitten? — Aber welche Zukunft konnten Männer erwarten, die zum bürgerlichen Tode verurtheilt waren? Was für einen Trost würden unsere Verwandten davon haben, uns ohne Stellung, ohne bürgerliche Rechte, ohne Beschäftigung unter Aufsicht der Polizei verkümmern zu sehen? — Außerdem mußten wir uns sagen, daß wenn die Vermittelung des Thronfolgers auch Einige von uns aus der Verban¬ nung befreite, nur ein geringer Theil unserer Unglücksgefährten dieser Gnade theilhaftig werden könne und die Uebrigen, ja die Meisten, in allen Richtungen Sibiriens zerstreut, in eine noch üblere Lage gerathen müßten. — Als die Nachricht kam, daß der Thronfolger schon in Tobolsk sei, daß er nur den westlichen Grenzstrich Sibiriens berühren, über Jalutorowsk und Kurgan nach Orenburg reisen und den 6. Juni in unserer Stadt eintreffen werde, wuchs meine Unruhe täglich. Für mich selbst hatte ich Nichts zu bitten, aber für die Zukunft meiner Kinder, meiner treuen Gattin mußte ich sorgen, da meine zunehmende Kränklichkeit mir den Gedanken nahe legte, nicht mehr lange ihr Beschützer und Rathgeber zu bleiben. — In einem solchen Kampfe wurde es mir nicht schwer mich zu entschließen. Drei Tage vor der Ankunft des Thronfolgers fuhr ich zu meinen Kameraden und that ihnen meinen Entschluß kund, eine Audienz beim Thronfolger zu erbitten, um ihm mündlich das Schicksal meiner Familie anzuvertrauen, wenn ich selbst nicht mehr sein würde. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich eine solche Gelegenheit verabsäumt hätte, um meinen Kindern, wenn auch nicht sogleich, doch mit der Zeit, einige Erleichterung zu verschaffen. Den 6. Juni Nachmittag strömte das Volk in festlicher Tracht dem Thronfolger entgegen, den man zur Nacht erwartete. Außer den Einwohnern der Stadt kam eine Menge Landvolk aus den umliegenden Dörfern und be¬ setzte Werste weit beide Seiten des Weges auf dem er kommen sollte. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/462>, abgerufen am 06.02.2025.