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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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gora und Jrkuta spiegelnd. -- Jeder Schritt führte uns einem neuen Leben
näher; derselbe Weg, den ich vor sechs Jahren im Winter zurückgelegt hatte,
schien mir jetzt völlig verändert zu sein.

Da es mit der Gesundheit unseres Kindes besser zu gehen begann, fa߬
ten wir frischen Muth und setzten unsere Reise nach Kurgan, wo uns doch
nur eine neue Art von Gefängniß erwartete, mit einiger Freudigkeit fort.
Wir fuhren sehr schnell und eilten absichtlich, um zeitig in Kurgan anzukom.
men. Von Petrowsk bis zu unserm neuen Bestimmungsorte zählte man nicht
weniger als 4200 Werst (600 deutsche Meilen); die unvorhergesehene Ver-
zögerung meiner Abfertigung aus dem Gefängnisse, die Hindernisse auf dem
Baikalsee hatten uns drei Wochen guter Jahreszeit geraubt: es war schon
Anfang August und die Nachtfröste begannen. Dafür waren wir von den
kleinen Fliegen befreit, die während des kurzen sibirischen Sommers Mer"
schen und Thiere so schrecklich quälen, daß man am Tage gar nicht arbeiten
kann und selbst gemeine Dienstarbeiter das Gesicht mit Schleiern aus Draht
oder Leinwand bedecken müssen. -- Ich habe schon der ungewöhnlichen Rasch¬
heit der sibirischen Pferde erwähnt; wir fuhren Tag und Nacht; Abends
setzte ich mich neben den Fuhrmann aus den Bock und versprach ihm ein gu¬
tes Trinkgeld, wenn er vorsichtig und etwas langsamer fahren würde; aber
mein Versprechen und meine Drohungen waren vergeblich -- die Pferde unauf.
sattsam. Wenn sie aus der Station angespannt wurden, stand eine Menge
Menschen vor diesen unbändigen Thieren und hielt sie an den Halftern fest;
sobald sich der Reisende eingesetzt hatte rief der Fuhrmann: "Laßt los!" Die
Menschen warfen sich dann rasch nach rechts und links in die Flucht und
der Wagen flog ohne Uebertreibung wie eine Kugel dahin. Alle Anstreng¬
ungen des Fuhrmanns sind fruchtlos: je mehr er zurückhält, desto rascher ren¬
nen die Pferde, er kann nur die Richtung des Weges festhalten. -- Nach
den Mer vier Wersten, wo gewöhnlich Thor und Umzäunung des Weide-
Platzes für die Dorf- und Stationsheerde den Weg hemmen, werden die
Pferde ruhiger und ist die eigentliche Gefahr vorüber, denn die Thiere sehen
Wenigstens auf den Weg. Ging es im vollen Lauf bergab oder über einen
Fluß, so konnte einem immer noch Hören und Sehen vergehen.




Wir übergehen die ferneren Abenteuer der Reise, welche unsern Me¬
moirenschreiber und seine Familie von Jrkutsk nach Kurgan führte. In
diesem Städtchen, in welchem sich allmälig auch andere politische Verbrecher
von 1825 einfanden, lebte der Verfasser fünf Jahre lang mit seiner heran-
wachsenden Familie als Ansiedler. Ueber die Umstände, welche zu einer Um-
Wandlung der "ewigen Ansiedlung in Sibirien" in Verweisung nach Kau-
kasien führten, lassen wir ihn selbst berichten:


gora und Jrkuta spiegelnd. — Jeder Schritt führte uns einem neuen Leben
näher; derselbe Weg, den ich vor sechs Jahren im Winter zurückgelegt hatte,
schien mir jetzt völlig verändert zu sein.

Da es mit der Gesundheit unseres Kindes besser zu gehen begann, fa߬
ten wir frischen Muth und setzten unsere Reise nach Kurgan, wo uns doch
nur eine neue Art von Gefängniß erwartete, mit einiger Freudigkeit fort.
Wir fuhren sehr schnell und eilten absichtlich, um zeitig in Kurgan anzukom.
men. Von Petrowsk bis zu unserm neuen Bestimmungsorte zählte man nicht
weniger als 4200 Werst (600 deutsche Meilen); die unvorhergesehene Ver-
zögerung meiner Abfertigung aus dem Gefängnisse, die Hindernisse auf dem
Baikalsee hatten uns drei Wochen guter Jahreszeit geraubt: es war schon
Anfang August und die Nachtfröste begannen. Dafür waren wir von den
kleinen Fliegen befreit, die während des kurzen sibirischen Sommers Mer«
schen und Thiere so schrecklich quälen, daß man am Tage gar nicht arbeiten
kann und selbst gemeine Dienstarbeiter das Gesicht mit Schleiern aus Draht
oder Leinwand bedecken müssen. — Ich habe schon der ungewöhnlichen Rasch¬
heit der sibirischen Pferde erwähnt; wir fuhren Tag und Nacht; Abends
setzte ich mich neben den Fuhrmann aus den Bock und versprach ihm ein gu¬
tes Trinkgeld, wenn er vorsichtig und etwas langsamer fahren würde; aber
mein Versprechen und meine Drohungen waren vergeblich — die Pferde unauf.
sattsam. Wenn sie aus der Station angespannt wurden, stand eine Menge
Menschen vor diesen unbändigen Thieren und hielt sie an den Halftern fest;
sobald sich der Reisende eingesetzt hatte rief der Fuhrmann: „Laßt los!" Die
Menschen warfen sich dann rasch nach rechts und links in die Flucht und
der Wagen flog ohne Uebertreibung wie eine Kugel dahin. Alle Anstreng¬
ungen des Fuhrmanns sind fruchtlos: je mehr er zurückhält, desto rascher ren¬
nen die Pferde, er kann nur die Richtung des Weges festhalten. — Nach
den Mer vier Wersten, wo gewöhnlich Thor und Umzäunung des Weide-
Platzes für die Dorf- und Stationsheerde den Weg hemmen, werden die
Pferde ruhiger und ist die eigentliche Gefahr vorüber, denn die Thiere sehen
Wenigstens auf den Weg. Ging es im vollen Lauf bergab oder über einen
Fluß, so konnte einem immer noch Hören und Sehen vergehen.




Wir übergehen die ferneren Abenteuer der Reise, welche unsern Me¬
moirenschreiber und seine Familie von Jrkutsk nach Kurgan führte. In
diesem Städtchen, in welchem sich allmälig auch andere politische Verbrecher
von 1825 einfanden, lebte der Verfasser fünf Jahre lang mit seiner heran-
wachsenden Familie als Ansiedler. Ueber die Umstände, welche zu einer Um-
Wandlung der „ewigen Ansiedlung in Sibirien" in Verweisung nach Kau-
kasien führten, lassen wir ihn selbst berichten:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/461>, abgerufen am 06.02.2025.