Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.Schließlich wurde ich seekrank und lag größtenteils auf dem Verdeck, des Die Magd öffnete leise die Thüre; ich sah das Licht einer Nachtlampe Schließlich wurde ich seekrank und lag größtenteils auf dem Verdeck, des Die Magd öffnete leise die Thüre; ich sah das Licht einer Nachtlampe <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0460" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/287732"/> <p xml:id="ID_1149" prev="#ID_1148"> Schließlich wurde ich seekrank und lag größtenteils auf dem Verdeck, des<lb/> Nachts in meiner kleinen Kajüte, in die ich nicht hinein gehen, sondern nur<lb/> hineinkriechen konnte. Je größer meine Ungeduld wurde, desto unüberwind¬<lb/> licher zeigten sich die Hindernisse, nach zweitägigem Sturm blies sechs Tage<lb/> lang unausgesetzt ein conträrer Wind, Schon sieben Tage lagen wir vor<lb/> Anker, der Mundvorrath erschöpfte sich: noch einen Tag, und wir hätten nach<lb/> Tschertowkino umkehren und im Delta der Selenga aufs Neue Zeit verlieren<lb/> müssen. Am achten Tage wurden bereits die Ueberbleibsel der Brodkrumen<lb/> gesammelt; die Fischer hatten noch Branntwein, aber Brod nur wenig, und<lb/> versicherten kaltblütig, daß sie bisweilen zwei Wochen auf dem See zu¬<lb/> gebracht und auf günstigen Wind gewartet hätten. Ich mengte Brodstücke<lb/> und Grützeüberreste mit dem Tokaier Wein, den mir die Fürstin Trubetzkoy<lb/> zur Reise mitgegeben hatte, und lebte von diesem eigenthümlichen Gemisch<lb/> Tage lang. Diesen Wein, aus dem Keller des berühmten Gastronomen,<lb/> Grafen Laval, hatte ich meiner Frau für den Fall einer Krankheit aufbewahren<lb/> wollen; jetzt mußte er geopfert werden. Am neunten Tage wurde beschlossen,<lb/> um Mittagszeit zurückzusegeln. Da begann der Wimpel des Schiffes sich zu<lb/> bewegen. Die Fischer riefen: „Entweder kommt nun Stille oder günstiger<lb/> Wind! — Richtet den Mast aus, zieht die Segel aus! Der Wind ist gut!"<lb/> Es ging wirklich vorwärts: nach einigen Stunden erreichten wir unweit einer<lb/> Poststation das andere Ufer. Hier erfuhr ich, daß meine Frau gleich mir<lb/> viele Tage lang auf dem See aufgehalten worden war. Bis Jrkutsk jagte<lb/> ich jetzt mit Windeseile; um Mitternacht kam ich an; ein Polizeidiener be¬<lb/> gleitete mich zur Wohnung meiner Frau.</p><lb/> <p xml:id="ID_1150" next="#ID_1151"> Die Magd öffnete leise die Thüre; ich sah das Licht einer Nachtlampe<lb/> und hörte die Stimme meiner Frau, die ihr schlummerndes Kind einwiegte.<lb/> Die Freude des Wiedersehns war unbeschreiblich und wir versprachen einander<lb/> uns künftig nicht wieder zu trennen; in den Gesichtszügen meiner Frau las<lb/> ich sogleich die Krankheit meines Sohnes. Er war gefährlich krank, nahm keine<lb/> Nahrung zu sich, seine Gesichtsfarbe wurde noch blässer als sonst. Die Mutter<lb/> hob ihn aus dem Bette und trug ihn zu mir; er sah mich lange und starr<lb/> an, hob dann hastig seine Hand auf und lächelte: — von diesem Augenblicke<lb/> an bekam ich Hoffnung aus seine Genesung. Da der Herbst heranrückte,<lb/> war an Aufschub der Reise nicht zu denken, wir mußten uns trotz der Krank¬<lb/> heit des Kindes auf den Weg machen. Ich fuhr zum Gouverneur I. B.<lb/> Zeidler. erhielt meinen Paß und zum Begleiter einen Kosakenunterofficier.<lb/> Den 4. August Nachmittags setzten wir über die klaren Wasser der Angora-<lb/> Der Abend war freundlich; jenseit des Angora brach die Sonne durch die<lb/> Wolken und beleuchtete mit ihren Abendstrahlen die zweite Hauptstadt Sibiriens<lb/> und einige große Gebäude, rings von Gärten umgeben und sich in der An-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0460]
Schließlich wurde ich seekrank und lag größtenteils auf dem Verdeck, des
Nachts in meiner kleinen Kajüte, in die ich nicht hinein gehen, sondern nur
hineinkriechen konnte. Je größer meine Ungeduld wurde, desto unüberwind¬
licher zeigten sich die Hindernisse, nach zweitägigem Sturm blies sechs Tage
lang unausgesetzt ein conträrer Wind, Schon sieben Tage lagen wir vor
Anker, der Mundvorrath erschöpfte sich: noch einen Tag, und wir hätten nach
Tschertowkino umkehren und im Delta der Selenga aufs Neue Zeit verlieren
müssen. Am achten Tage wurden bereits die Ueberbleibsel der Brodkrumen
gesammelt; die Fischer hatten noch Branntwein, aber Brod nur wenig, und
versicherten kaltblütig, daß sie bisweilen zwei Wochen auf dem See zu¬
gebracht und auf günstigen Wind gewartet hätten. Ich mengte Brodstücke
und Grützeüberreste mit dem Tokaier Wein, den mir die Fürstin Trubetzkoy
zur Reise mitgegeben hatte, und lebte von diesem eigenthümlichen Gemisch
Tage lang. Diesen Wein, aus dem Keller des berühmten Gastronomen,
Grafen Laval, hatte ich meiner Frau für den Fall einer Krankheit aufbewahren
wollen; jetzt mußte er geopfert werden. Am neunten Tage wurde beschlossen,
um Mittagszeit zurückzusegeln. Da begann der Wimpel des Schiffes sich zu
bewegen. Die Fischer riefen: „Entweder kommt nun Stille oder günstiger
Wind! — Richtet den Mast aus, zieht die Segel aus! Der Wind ist gut!"
Es ging wirklich vorwärts: nach einigen Stunden erreichten wir unweit einer
Poststation das andere Ufer. Hier erfuhr ich, daß meine Frau gleich mir
viele Tage lang auf dem See aufgehalten worden war. Bis Jrkutsk jagte
ich jetzt mit Windeseile; um Mitternacht kam ich an; ein Polizeidiener be¬
gleitete mich zur Wohnung meiner Frau.
Die Magd öffnete leise die Thüre; ich sah das Licht einer Nachtlampe
und hörte die Stimme meiner Frau, die ihr schlummerndes Kind einwiegte.
Die Freude des Wiedersehns war unbeschreiblich und wir versprachen einander
uns künftig nicht wieder zu trennen; in den Gesichtszügen meiner Frau las
ich sogleich die Krankheit meines Sohnes. Er war gefährlich krank, nahm keine
Nahrung zu sich, seine Gesichtsfarbe wurde noch blässer als sonst. Die Mutter
hob ihn aus dem Bette und trug ihn zu mir; er sah mich lange und starr
an, hob dann hastig seine Hand auf und lächelte: — von diesem Augenblicke
an bekam ich Hoffnung aus seine Genesung. Da der Herbst heranrückte,
war an Aufschub der Reise nicht zu denken, wir mußten uns trotz der Krank¬
heit des Kindes auf den Weg machen. Ich fuhr zum Gouverneur I. B.
Zeidler. erhielt meinen Paß und zum Begleiter einen Kosakenunterofficier.
Den 4. August Nachmittags setzten wir über die klaren Wasser der Angora-
Der Abend war freundlich; jenseit des Angora brach die Sonne durch die
Wolken und beleuchtete mit ihren Abendstrahlen die zweite Hauptstadt Sibiriens
und einige große Gebäude, rings von Gärten umgeben und sich in der An-
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